Über den Hierarchen und Neumärtyrer Iosif von Petrograd

 



 

 

 

 

Mit freundlicher Genehmigung des Klosters des hl. Hiob von Počaev veröffentlicht.
Im Original erschienen in:
Bote 1997, 6

 

Diese kurze Lebensbeschreibung gibt eine Vorstellung davon, in welchen Umständen der heilige Hierarch und Neumärtyrer, Metropolit Iosif von Petrograd, seinen Weg des Zeugnisses für Christus ging. Sie stellt eine Einleitung zu unserer nachfolgenden Publikation seines geistlichen Tagebuches, der Aufzeichnungen eines Mönches dar.
Der Märtyrertod des Metropoliten Iosif stellt dieses Tagebuch in ein völlig neues Licht: Der Leser erhält die außerordentliche, seltene Gelegenheit der Einsicht, wie in einem Herzen, das durch die Umkehr gereinigt wird, “die ewige allumfassende Wahrheit” verankert wird, welche es stärkt und zum Zeugnis für Christus leitet. – Red.

Metropolit Iosif (Petrovych) wurde 1872 im Gouvernement Novgorod geboren. Getauft wurde er auf den Namen Johannes. Nach Abschluß des Seminars und der Geistlichen Akademie wurde er in der Funktion eines Dozenten an der Moskauer Geistlichen Akademie angestellt. Im Jahre 1901 trat er in den Mönchsstand ein, und bald darauf wurde er zum Priestermönch geweiht. Zwei Jahre später, nachdem er den Titel eines Magisters der Theologie erlangt hatte, wurde er zum außerordentlichen Professor an derselben Akademie. Als Archimandrit (1904) war er für kurze Zeit Vorsteher zweier Klöster. Bald folgte die Weihe zum Bischof von Ugli¡c (1909). Für lange Zeit wird damit sein Leben im Stande eines Vikarbischofs mit der Diözese von Jaroslavl verbunden. Er nimmt am Allrussischen Kirchenkonzil von 1917/18 teil. Wegen Widerstands gegen die “Kampagne zur Öffnung der Reliquien” wird er 1919 in Rostov verhaftet und war im Inneren Gefängnis des damaligen Geheimdienstes (V@CK) inhaftiert. Zunächst wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen, danach schon als Erzbischof von Rostov zu einem Jahr Konzentrationslager auf Bewährung verurteilt.
Im Zusammenhang mit der Enteignung kirchlicher Wertgegenstände entwickelten Trockij und Lenin eine Kampagne zur Unterstützung ihrer antikirchlichen Politik unter Zuhilfenahme “loyaler Geistlicher”. Es entstand das Schisma der sogenannten “Erneuerer” und der “Lebendigen Kirche”. Patriarch Tichon wurde verhaftet. Auch der Erzbischof Iosif wurde des “Widerstandes gegen die Herausgabe der kirchlichen Wertgegenstände” bezichtigt und schließlich zu 4 Jahren Haft verurteilt. Aber ein halbes Jahr später wurde der Hierarch auf Beschluß der Regierung freigelassen. Im Juni 1923 kam auch der Patriarch Tichon frei. Ein knappes Jahr später wurde Erzbischof Iosif zum Mitglied des Heiligsten Synod beim Patriarchen. Aber eine geregelte Arbeit war dem Synod nicht mehr möglich. Im April 1925 nahm Erzbischof Iosif mit rund sechzig weiteren Hierarchen am Begräbnis des Patriarchen Tichon teil und unterschrieb die Urkunde zur Übergabe der Vollmachten des Patriarchatsverwesers an den Metropoliten Peter (Poljanskij). Der Letztere benannte Erzbischof Iosif in einer geheimen Verfügung im Dezember 1925 als dritten Kandidaten zum Stellvertretenden Patriarchatsverweser. Als erster Kandidat wurde von ihm der Metropolit Sergij (Stragorodskij) bestimmt, der nach der Verhaftung des Metropoliten Peter, die am 10.12.1925 erfolgte, als dessen Stellvertreter zu fungieren begann.
Im Jahre 1926 suchte Metropolit Sergij nach einem würdigen Hierarchen für die verwitwete Kathedra der ehemaligen russischen Hauptstadt, die vor kurzem noch Petrograd hieß. Dieser Ort war von herausragender Bedeutung und keineswegs ungefährlich, weil die Sowjetmacht ganz offensichtlich die “Erneuerer” unterstützte. Aber es war nicht nur aus diesem äußeren Grund schwierig, einen Bischof zu finden, der an der Spitze dieser Diözese stehen könnte. Im Zusammenhang mit dem Erneuerertum war gerade in dieser Diözese die Situation kompliziert und äußerst angespannt. Metropolit Sergij entschied sich schließlich für Metropolit Iosif und gab ihm im September 1926 den Einsetzungserlaß. Diejenigen im Klerus und unter den Gläubigen, die den “Erneuerern” tapfer widerstanden und hierin ihrem geistlichen Führer, dem Märtyrer-Hierarchen Venjamin (Kazanskij) nachfolgten, haben ihren neuen Oberhirten angenommen und sofort liebgewonnen “als einen standfesten Kämpfer für die Reinheit der Orthodoxie, und, wie es ein Zeitzeuge beschreibt, fühlte das Volk eine seelische Erleichterung und die Gewißheit, daß es sich nunmehr in vertrauenswürdigen Händen befindet” (M. Ioann, Die kirchlichen Schismen..., S. 147 - s. Bibliogr. Nr. 8).
Metropolit Iosif hielt eine Nachtwache, bei der ihm das gesamte Episkopat der Stadt und etwa 150 andere Geistliche konzelebrierten. Dem folgte eine Liturgie. Das waren die einzigen beiden Gottesdienste. Sie fanden am 11.-12. September (n.St.) 1926 in der Hl.-Alexander-Nevskij-Lavra statt. Metropolit Iosif, der nach Rostov reiste, um sich von seiner dortigen Gemeinde zu verabschieden, wurde zur “Vereinigten Staatlichen Politverwaltung” (OGPU) zitiert. Nach dem Gespräch mit dem Spezialisten für Religionsfragen E. A. Tu¡ckov schickte man ihn nach Rostov zurück. Es war ihm von da an untersagt, die Stadt zu verlassen. Der hl. Märtyrer-Hierarch lenkte von Rostov aus seine Diözese durch seine Vikarbischöfe, deren es im ehemaligen Petrograd fünf gab. In Rostov besuchten ihn auch Vertreter der Gläubigen, denn in seiner Diözese tobten die Richtungskämpfe. Wenn man bedenkt, daß 1923 die Machthaber bereits einmal ihre Maßnahmen ihm gegenüber revidiert hatten, so darf man annehmen, daß auch jetzt Metropolit Iosif auf eine Veränderung seiner Situation hoffte, zumal Tu¡ckov, der durch Betrug und Intrigen aktiv in die innerkirchliche Situation eingriff auch falsche Hoffnungen säte, wo immer er konnte.
Metropolit Sergij wurde verhaftet (am 08.12.1926) im Zusammenhang mit dem von den Machthabern nicht kontrollierten Versuch der russischen Bischöfe, einen Kandidaten für das Patriarchenamt durch Briefwahl zu bestimmen. Hierbei vereinigte der hl. Metropolit Kirill (Smirnov) die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich. In diesen Tagen war es dem hl. Märtyrer-Hierarchen Iosif bestimmt als Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche zu wirken, aber nur wenige Tage. Am 8. Dezember 1926 gab er als Stellvertretender Patriarchatsverweser ein Sendschreiben heraus, in dem er provisorische Stellvertreter ernannte und zugleich daran erinnerte, wie die Kirche sich im Sinne des Patriarchenerlasses Nr. 362 vom 7./20. November 1920 selbst zu verwalten habe.*
Umgehend erfolgte die Verhaftung des hl. Metropoliten Iosif, der in die Novgoroder Diözese verbannt wurde (in das ehemalige Nikolo-Modenski-Kloster bei Ustju¡zna). Aber auch von dort gelang es ihm, seine Diözese zu leiten. Im Herbst 1927 wurde ihm gestattet nach Rostov zurückzukehren.
Im März 1927 wurde Metropolit Sergij aus der Haft freigelassen und erhielt eine Zuzugsgenehmigung nach Moskau, die er zuvor nicht gehabt hatte. Am 20. Mai genehmigte ihm das Volkskommissariat für Inneres (NKVD) einen eigenen provisorischen “Geheiligten Patriarchatssynod” beim Stellvertreter des Patriarchatsverwesers gemäß der von ihm vorgelegten Liste. Allerdings gibt es Hinweise darauf, daß dieselbe Liste bereits dem letzten vorherigen Stellvertreter, dem Erzbischof Serafim von Uglic (Samojlovi¡c) im Gefängnis vorgelegt worden war, der die Liste jedoch verwarf (Bote 1/1992, S. 14 u. Bote 2/1998, S. 19).
Bekanntlich forderte Metropolit Sergij vorab von allen Priestern der russischen Auslandsgeistlichkeit die persönliche Unterzeichnung einer Erklärung “in der sie sich zu uneingeschränkter Loyalität gegenüber der Sowjetregierung in ihrer gesamten öffentlichen Tätigkeit” verpflichten sollten (Die Orthodoxe Kirche in Rußland, s. Bibliogr. Nr. 10, S. 729). Die Geistlichen der Russischen Auslandskirche wiesen natürlich die Forderung nach einer solchen “Loyalität” zurück. Dann gab Metropolit Sergij mit dem provisorischen “Geheiligten Patriarchatssynod” eine “Loyalitätserklärung” heraus und versandte sie in alle Diözesen (16./29.07.1927). Die “Loyalitätserklärung” rief in der Kirche Anstoß und eine Welle der Empörung hervor. Die Gleichberechtigung von Sergijs neuer Kirchenverwaltung mit dem Erneuerersynod war nur scheinbar und äußerlich. In Wirklichkeit hing über Sergijs provisorischer Verwaltung sogar juristisch ständig das Damoklesschwert der Auflösung. Nun wurde aber Metropolit Sergij die Erfüllung der weiteren Bedingungen der Gottlosen abverlangt, die ja gezielt in die Leitung der Kirche eingreifen wollten. Zu diesen Bedingungen gehörte, unter anderem, die Versetzung in den Ruhestand von verbannten und in Haft befindlichen Bischöfen oder deren Versetzung in weitabgelegene Diözesen, da ihnen der Umzug in ihre eigenen Diözesen nicht erlaubt wurde (ca. 40 derartige Fälle). Es wurde verlangt, daß solche bei Gottesdiensten nicht kommemoriert werden sollten, und andererseits sollte die Staatsmacht unbedingt kommemoriert werden. Die Kirche hat von alters her kanonische Regeln entwickelt, nach denen es nicht gestattet ist, die Diözese eines Bischofs gegen seinen Willen zu seinen Lebzeiten zu besetzen. Mit solchen Regeln schützte sich die Heilige Kirche vor Übergriffen des Staates. Bis zur Publikation der “Loyalitätserklärung” hatten dementsprechend die verbannten Hierarchen ganz natürlich das Recht auf ihre Diözesen bewahrt und galten weiterhin als Diözesanbischöfe. Als Metropolit Sergij nunmehr begann, die von ihm geforderten Maßnahmen durchzuführen, da begann sich vor den Augen der Gläubigen der unheilschwere praktische Sinn der “Loyalitätserklärung” zu entblößen. Das führte zu einer weiteren Verschärfung der innerkirchlichen Situation.
In seiner Magisterarbeit über die Kirchenopposition gegen Metropolit Sergij (aus dem Jahre 1966, die dann 1992 unverändert neuaufgelegt wurde) entwickelt Archimandrit Ioann (Sny¡cev, der in den 90-er Jahren Petersburger Metropolit war) folgende Datierung, was die weiteren Ereignisse um Metropolit Iosif betraf:
Der Synod von Metropolit Sergij fällte am 12. September 1927 die Entscheidung, Metropolit Iosif die Kathedra von Odessa zuzuweisen. Fünf Tage dauerte es, bis der Erlaß abgefaßt war (17.09.), weitere vier Tage gingen ins Land, bevor der Erlaß abgeschickt wurde (21.09.). Mit anderen Worten, über die Arbeitsbedingungen des Synods sollte nachgedacht werden. Aber dann kommt es schlimmer: Wenn Metropolit Sergij mit dem Erlaß schriftlich versprach, den Beschluß nicht vorher publik zu machen, als er mit Metropolit Iosif persönlich gesprochen hat, so geschah in der Praxis, wie Archim. Ioann (Sny¡cev) schreibt, “ein unvorhergesehener Umstand”, nämlich: die Ankunft des Briefes mit dem Ukaz “verzögerte sich aus unbekannten Gründen” (S. 149).
Es ist hinlänglich bekannt, wie geschickt die Machthaber die Post verzögerten und welche anderen Listen sie einsetzten, um Konfliktsituationen zwischen den obersten Hierarchen zu schaffen (z.B. zwischen den Metropoliten Peter, Agafangel und Sergij). Auch ist bekannt, daß aus ebendiesem Grund diejenigen, die die Unabhängigkeit der Kirche bewahren wollten nach Möglichkeit mit Gesandten die Verbindung aufrecht hielten. Deshalb schrieb ja Erzbischof Serafim (Samojlovi¡c) zu der Zeit als er selbst als Stellvertretender Patriarchatsverweser fungierte ganz offen in seinem Sendschreiben vom 16./29.12.1926, das an die gesamte Orthodoxe Russische Kirche gerichtet war: “Ich bitte den Schriftwechsel mit mir und die Beziehungen zu mir auf ein Minimum zu reduzieren” (“Akty...”, S. 490, s. Bibliogr. Nr. 1).
Gleich nach der Absendung des Briefes durch die Kanzlei des Provisorischen Synods erschienen jedenfalls im ehemaligen Petrograd irgendwelche “Administratoren” (dem Metropoliten Iosif muß bekannt gewesen sein, daß unter ihnen auch ein Mitglied des Provisorischen Synods war), die dort im engen Kreis die Entscheidung über die Versetzung des Metropoliten Iosif nach Odessa kundtaten. So wurde Zwist und Aufruhr gesät. Als der hl. Märtyrer-Hierarch von der Empörung beim Klerus und in der gläubigen Herde erfuhr, am 28. September, als er den Erlaß noch nicht erhalten hatte (er wird ihn erst am 22. Oktober erhalten!), wandte er sich an Metropolit Sergij mit einem Brief, in dem er schrieb:
“... Sie haben mich zum Leningrader Metropoliten gemacht, ohne das geringste Ansinnen meinerseits. Nicht ohne Verlegenheit und Bedrückung gab ich meine Zustimmung zu diesem Werk des Gehorsams, das andere, vielleicht vernünftigerweise, manchmal aber auch in unverantwortlicher Weise entschieden von sich wiesen... Vladyko! Ihre Festigkeit hat noch das Vermögen alles wieder zurechtzurücken und konsequent allen Wirren und Unbestimmtheiten ein Ende zu setzen. Es stimmt, ich bin nicht frei und kann jetzt der mir anvertrauten Herde nicht dienen, aber dieses «Geheimnis» ist ja für alle verständlich... Jetzt sind alle etwas standfesteren und notwendigen Menschen unfrei (und es ist nicht anzunehmen, daß sie frei sein werden)... Sie sagen - so wollen es die Machthaber, die den verbannten Bischöfen nur unter der Bedingung die Freiheit zurückgibt, daß sie den Ort wechseln, an dem sie früher dienten und lebten. Aber welchen Sinn und welchen Nutzen haben wir von diesem Austauschspiel und dem Hin- und Her der Bischöfe, die ja dem Geist der Kanones nach in einer untrennbaren Beziehung mit ihrer Herde so als sei es ihre Braut verbunden sind? Wäre es nicht richtiger zu sagen: Möge sie doch zugrundegehen dieses heuchlerische Menschenwerk von einer Barmherzigkeit, die mit unserer Menschenwürde Spott treibt, die auf billige Effekthascherei aus ist mit dem Schein des Erbarmens. Lieber soll es so sein, wie es früher war. Wir werden es schon irgendwie schaffen, bis zu der Zeit, wo man begreifen wird, daß mit Verbannungen und sinnloser Quälerei die ewige allumfassende Wahrheit nicht zu unterjochen ist...”** Metropolit Iosif ließ im Rahmen eines Kompromisses allenfalls eine vorübergehende Verwaltung anderer Diözesen zu, “aber im Titel muß der frühere Berufungsort unbedingt bewahrt bleiben”.
Eine gerechte Beurteilung der Haltung des Metropoliten Iosif kann man natürlich unmöglich erwarten in Arbeiten, die vom “Sowjetgeist” eingefärbt sind, sei es aus Notwendigkeit, wie möglicherweise in der Arbeit des Archimandriten Ioann (Sny¡cev) aus den 60-er Jahren, sei es wegen der Denkweise, wie, zum Beispiel, beim Erzpriester V. Cypin 1997. Leider ist es charakteristisch für diejenigen, die Sergijs Argumentation folgen, denjenigen “etwas anzuhängen”, die es gewagt haben, die Wege des Metropoliten Sergij in Frage zu stellen, der sich unter Machtmißbrauch die Rechte des Patriarchatsverwesers in der Russischen Kirche aneignete. So verwundert es nicht, wenn das Bild der Kritiker des Metropoliten Sergijs 70 Jahre verzerrt wurde und noch immer verzerrt wird. Archim. Ioann (Sny¡cev) behauptete, zum Beispiel, daß Metropolit Iosif seinen Weg nicht nur aus “Ehrgeiz” (S. 155) und “Eitelkeit” (S. 147) beschritt, sondern sogar “unter Einwirkung der geistlichen Verblendung” (S. 185).
Umso tröstlicher ist es, daß in Moskau 1997 eine wahrheitstreue Beurteilung des Wirkens des Hieromärtyrers Iosif möglich geworden ist. Im biographischen Handbuch “Die für Christus gelitten haben” (s. Bibliogr. Nr. 3) heißt es anläßlich seines Sendschreibens vom 8. Dezember 1926 und seines späteren Vorgehens:
“ ... Metropolit Iosif hinterläßt eine ausführliche Instruktion, wie die Kirche kompromißlos zu verwalten sei, ob als Ganzes oder in einzelnen Diözesen [gemäß des damals wohlbekannten Erlasses Nr. 362, s. oben - Erzpr. N.A.] für den Fall, daß alle denkbaren Kandidaten für das Amt des Patriarchatsverwesers oder seiner Stellvertreter beseitigt sein würden. Aus diesen Worten wird deutlich, daß Metropolit Iosif, der seit 1919 schon mehrfach verhaftet wurde und Gefängnisstrafen verbüßt hatte, vollkommen davon überzeugt war, vor ihm selbst liege, ebenso wie die vor den anderen Hierarchen, ausschließlich das Werk des Bekennertums.*** Er gehörte zu den ohne Schläue und Kompromiß denkenden Bekennern, die der Meinung waren, mit der Sowjetmacht über irgendein halbwegs normales Leben der Kirche eine Übereinkunft zu treffen, sei wegen deren satanischen Hasses gegen den Glauben an Gott unmöglich. Man müsse nur freimütig und offen für die Reinheit des Glaubens eintreten und den Weg des Leidens und des Todes für Christus beschreiten nach dem Vorbild der einstigen Märtyrer. Ebendeshalb waren dem Metropoliten Iosif die Leningrader Gläubigen so teuer, weil diese, angefangen vom Märtyrertod des hl. Metropoliten Venjamin (Kazanskij) und seiner Leidensgenossen, erstaunliche Standfestigkeit und Mut im Kampf für die Orthodoxie an den Tag legten wider die Erneuerer, die Leningrad für ihre Wiege hielten und alles daran setzten, es ganz und gar dem Erneuertum zuzuführen. Die Haltung der Leningrader Geistlichkeit und der Gläubigen entsprach der Einstellung und den Überzeugungen des Metropoliten Iosif am meisten, sie glaubten aneinander und liebten einander, wie man zu sagen pflegt, «auf den ersten Blick». Das wurde zur geistlichen Grundlage einer mächtigen kirchlichen Bewegung, die später den Namen “Iosifljaner” erhielt. Jeder Grundlage entbehren die Anklagen gegen Metropolit Iosif, er sei reizbahr, eigennützig, ruhmsüchtig gewesen und habe deshalb seiner Versetzung auf den Bischofssitz von Odessa nicht zugestimmt. Ein größeres Unverständnis für sein heißes, flammendes Herz kann man sich kaum vorstellen. War er doch auf dem Wege für die Wahrheit Zeugnis abzulegen und für Christus zu sterben, aber man schickte ihn - bildhaft gesprochen - ins Hinterland, bloß damit er nicht störte bei der Erreichung eines Kompromisses, den er als einen Verrat ansah. Seine Motive für die Zurückweisung der Kathedra von Odessa und für den Bruch mit Metropolit Sergij (Stragorodskij) war die von Metropolit Sergij durchgeführte Reform in den Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat sowie ein jeden Eigennutzes, Diplomatie und politischer Berechnung bares Bestreben des Metropoliten Iosif für die Wahrheit einzustehen bis zum Tode. (...)
Als Verbannter, aber doch amtierender Bischof der nach Moskau größten DIözese, der zudem eine ganze Reihe gleichgesinnter Bischöfe hatte (zu denen die höchstrangigsten Metropoliten gehörten, die vom hl. Patriarchen Tichon als Kandidaten für das Amt des Patriarchatsverwesers benannt worden waren [gemeint sind rangältesten Metropoliten der Russischen Kirche - Agafangel und Kirill, sowie später der Patriarchatsverweser Peter selbst - Erzpr. N.A.]) und eine bedeutende Anzahl der Vertreter der Geistlichkeit und der Laien, voll überzeugt davon, daß Metropolit Sergij keine kanonische Grundlage für seine großangelegten Aktivitäten hatte, fand sich Metropolit Iosif ganz natürlich, kraft der Logik des Widerstandes, als Haupt derer wieder, denen ein entsprechendes Verständnis ihrer Pflichtverantwortung keine Möglichkeit ließ, sich aktiven Gegenmaßnahmen zu entziehen. Aber die vorhandenen Materialien, darunter auch die polizeiliche Untersuchungsakte, zeugen davon, daß Metropolit Iosif selbst ziemlich weit von der praktischen Organisation des Widerstandes war, der seinen Namen trug. Hauptorganisatoren waren Dimitrij (Ljubimov), der Bischof von Gdovsk und Michail Alexandrovitsch Novoselov, die später den Märtyrertod auf sich nahmen. Die Verhaftung und die Verbannung, die bald auf sein seitens des Metropoliten Sergij ausgesprochenes Zelebrationsverbot folgten, führten den Metropoliten Iosif weitab von der Entwicklung der kirchlichen Ereignisse, lassen ihm eine lange Periode des Bekennertums und den nachfolgenden Märtyrertod. Wenn man das Geschehene beurteilen will, so muß man auch vermerken, daß weder Metropolit Iosif noch die, die ihm folgten, voraussehen konnten, welche Konsequenzen ihre Anstrengungen und Handlungen haben würden. Es braucht gar nicht eigens davon gesprochen zu werden, daß sie kein Schisma wollten und nicht um die Macht kämpften. Sie versuchten den Widerstand zu organisieren, um in der Wahrheit zu stehen in einer Zeit, da um sie herum der Verrat herrschte und die Apostasie [der Abfall von Christus - Erzpr. N.A.] zur Lebensnorm wurde” (“Die für Christus gelitten haben”, S. 521 f, s. Bibliogr. Nr. 3).
Diese Einschätzung ist frei von Voreingenommenheit und nicht von der Notwendigkeit diktiert um jeden Preis, auch auf Kosten der Märtyrer und Bekenner, den Kurs des Metropoliten Sergij zu rechtfertigen.
Metropolit Iosif hatte ein anderes Verständnis von Kirche als sein Gegenpart, und auch in administrativer Hinsicht hielt er sich - ebenso wie die anderen Hierarchen, die dem neuen Kurs widerstanden - für nicht verpflichtet, dem Stellvertreter des Patriarchatsverwesers zu folgen, der ganz offensichtlich seine Machtbefugnisse überschritt.
Heute steht fest, daß diese Machtanmaßung auch vom Patriarchatsverweser selbst, vom hl. Metropolit Peter schriftlich entlarvt und eine Umkehr angemahnt wurde («Akty», S. 681, 691, s. Bibliogr. Nr. 1; weitere neueste Dokumentation zur Haltung des Metropoliten Peter s. auch Bibliogr. 4 a). Metropolit Sergij hörte nicht auf die Mahnung Metropolit Peters, des wahren Hauptes der Russischen Orthodoxen Kirche, und bestand weiterhin darauf, die uneingeschränkte kirchliche Vollmacht zu besitzen, ging somit seinen eigenen, kirchlich illegalen Weg weiter.
In der Russischen Kirche der damaligen Zeit war der Erlaß Nr. 362 vom 7./20. November 1920 sehr gut bekannt und wurde auch immer wieder angewendet. Diesen Erlaß kann - gemäß den Kirchenregeln - nur eine gleichwertige oder höhere Instanz aufheben. Eine solche existiert bis heute nicht, da der Erlaß Nr. 362 von der Obersten Kirchenverwaltung herausgegeben wurde, die drei auf einem Allrussischen Landeskonzil frei gewählte Instanzen umfaßte: den Patriarchen, den Geheiligten Synod und den Obersten Kirchenrat. Diejenigen, die sich nach 1927 vom Metropoliten Sergij und seiner Gefolgschaft abgewendet haben, sahen sich einem künftigen freien Allrussischem Kirchenkonzil verpflichtet. Dieses sollte über ihre Handlungen urteilen. Im Erlaß Nr. 362 war das Ablegen einer solchen später zu vollziehenden Rechenschaft vorgesehen. Wer hätte jemals gedacht, daß sich dieser Zustand bis 1999 fortsetzen würde?
Hier ist nicht der Ort, die weitere Entwicklung der Situation in Rostov und dem ehemaligen Petrograd nachzuzeichnen. Es genügt, mit den Worten des Tropars aus dem Kanon für die hll. Neumärtyrer und Bekenner Rußlands zu sagen:
“Laßt uns seligpreisen den Hierarchen Iosif von Petrograd, der eiferte um die Unbeflecktheit der geheimen Kirche, in der Verbannung hatte er sein Bettlager bei den unreinen Schweinen, und wir hören ihn, wie er uns in die Tiefe unserer Herzen hineinspricht: durch Leiden und Treue erhebet Christus in alle Ewigkeit” (Lied 8).
Zum Schluß noch das folgende Zitat aus dem Buch “Die für Christus gelitten haben”. Allerdings bleiben auch hier Fragen offen für eine weitergehende Diskussion.
“Nach siebzig Jahren ist klar, daß viele heiße und unbedachte Worte ausgesprochen wurden, inder Hitze des Gefechtes, angesichts von Verhaftungen, Gefängnissen, Erschießungen war es schwer, Selbstbeherrschung zu bewahren, objektiv das Geschehen zu beurteilen, zahlreiche Fehler zu vermeiden... Aber «wenn man nach mehreren Jahrzehnten die vergangenen Ereignisse der russischen Kirchengeschichte aufmerksam betrachtet, ist es unumgänglich, die Schismen, die aus konjunkturellen Überlegungen eingeleitet wurden, aus Machtliebe, Politik, Nationalismus, solche wie das Schisma der ‘Lebendigen Kirche’, der ‘Erneuerer’, der ‘Grigorianer’, von den Trennungen zu unterscheiden, die entstanden aus dem bekennenden Festhalten an der geistlichen Ganzheitlichkeit der Wahrheit und des kirchlichen Lebens. Im Unterschied zu den eigentlichen Schismatikern waren solche Oppositionelle sehr bald vor die Notwendigkeit gestellt, das eigene Blut zu vergießen, die Freiheit und das Leben für die von ihnen bekannten Anschauungen hinzugeben. Ihr Martyrium legt mit großer Kraft Zeugnis darüber ab, daß die unterschiedlichen Meinungen und ihre Trennungen eine suche nach der Wahrheit waren, eine vorübergehende und taktische Bedeutung hatten und ihre Zugehörigkeit zur Fülle der Russischen Kirche nicht schädigen konnten. [...] Die ‘kanonischen’ Verbote des Metropoliten Sergij (Stragorodskij) und seines Synod wurden von niemandem ernstgenommen, weder damals, noch in der nachfolgenden Zeit, wegen der unkanonischen Situation des Metropoliten Sergij selbst, dessen kirchliche Macht, angesichts der außerordentlichen Bedingungen der damaligen Zeit sich nicht auf kanonische Bestimmungen stützte, sondern auf die faktische Anerkennung seitens eines ausreichend großen Teils der Russischen Orthodoxen Kirche. [...] Die historische Erfahrung zeugt eindeutig davon, daß die Kirche mit der Zeit in der Lage ist, das Martyrium und das Bekennertum ihrer Zeugen des Glaubens zu wertschätzen, mit Liebe die vielen unumgänglichen Streitigkeiten und Trennungen, und manchmal sogar Fehler zu bedecken». Metropolit Iosif zelebrierte die Göttliche Liturgie insgeheim in der Verbannung, er blieb aufrecht bei den Verhören, verbrachte die letzten Monate seines Lebens im Gefängnis von @Cimkent zusammen mit Metropolit Kirill (Smirnov), mit dem er einmütig war und die vorherigen Jahre heimlichen Kontakt hatte. Die beiden Starzen-Metropoliten wurden in der Nähe der Stadt @Cimkent am Vorabend des hl.-Erzengel-Michaels-Tag erschossen” (S. 522 f. Im Buch wird die Quelle des umfangreichen Zitats nicht angegeben).
Diese zwei geistlichen Säulen der Russischen Kirche verherrlichten Christus-Gott durch ihren Märtyrertod am 7./20. November 1937, d.h. am Tag des Erlasses Nr. 362 vom Jahre 1920, durch den die Kirche Christi in Rußland sich gegen Übergriffe auf ihre Freiheit schützte, und auf den sie sich unabdingbar beriefen in ihrem kirchlichen Sein und Stehen. Als Ort ihres Begräbnisses wird die Fuchsschlucht (Lisij ovrag) bei @Cimkent genannt.

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10. Arfved Gustafson, Die Katakombenkirche, Stuttgart 1954

Erzpr. N. A.

Vorwort des Autors
Das abgeschiedene, schweigsame, verinnerlichte, von göttlichen Gedanken erfüllte Leben des Mönches ist kostbar, reich und beseligend durch viele Minuten der gnadenreichen Erleuchtung durch Gott, der Gotteserkenntnis und der Selbsterkenntnis, die all sein Glück hienieden und das Pfand der Erlösung und der zukünftigen Seligkeit im Himmel darstellen. Die Niederschrift all dessen, was dem Papier aus jenen Minuten anvertraut werden kann, stellt das vorliegende Buch dar, aus dem jeder sehen möge, wie die allerverzweifeltsten Sünder gleich mir von der Liebe des Himmlischen Vaters nicht verworfen werden, in der Hoffnung auf das Erbarmen unseres Erlösers nicht getäuscht werden und der gnadenerfüllten Tröstungen des Geistes Gottes, des Trösters, nicht verlustig gehen...
Mögen, o Herr, Deine wunderbaren Gnadenerweise an mich Frevler und Ruchlosen zur Vernunft und Besserung bewegen, die Nachlässigen zur Bemühung, die innerlich Schwachen zum Eifer, die Verzweifelten zur Hoffnung, die sich in Askese Übenden zur Geduld und zur Vermehrung ihrer geistigen Praxis, und alle, die Deiner Errettung bedürfen zum kühnen und stetigen Beschreiten des Weges zum Heil!... 26. Aug. 1904

An den Leser
Da du nun das vorliegende Buch in Händen hast, lieber Leser, wisse, daß du in gewisser Weise auch meine Seele besitzt! Belächele sie nicht, verurteile sie nicht, mache ihr keine Vorwürfe! Sie liegt hier offen vor dir so, wie sie man sie nur dem geistlichen Vater und dem am allernächsten stehenden Menschen öffnet: Sie ist in allen verborgensten Regungen, den täglich sich wandelnden Stimmungen, Empfindungen, Mängeln und Hilflosigkeiten, in allen guten oder schlechten, hellen oder dunklen Seiten und Äußerungen des Lebens vor dir geöffnet...
Mag sein, daß vieles und vielleicht gar sehr vieles hier gar nicht verdienen würde, auf Papier verewigt zu werden. Aber der Wunsch, mich selbst in aller Deutlichkeit eben so zu sehen, wie ich war und mich in meinem Tagebuch in der nun verflossenen Vergangenheit ergoß, überwog über alle anderen Beweggründe, und nicht zum Schlechtesten. Wenn ich diese aus meiner Seele einst herausgeflossenen Zeilen wiederlese, dann blicke ich in ihnen in einer besonderen und besseren Weise auf mich selbst. Hier findet etwas ähnlich dem statt, wenn der Künstler, der ein Bild malt, um es besser in allen Details zu überblicken, besser seine Mängel und wie er sie ausbessern kann zu sehen, auf einen gewissen Abstand von dem Bild zurücktritt und es nicht einfach anstarrt, sondern aus der Ferne anschaut. Denn das fortgesetzte Fixieren einer Zeichnung aus der Nähe führt oft dazu, daß der Künstler seinen Blick für die Fehler des Bildes abstumpft... Auf ähnliche Weise handelt der Dirigent, wenn er sich bemüht, seinen Chor aus der Ferne anzuhören, um einen volleren Eindruck von dem Gesang zu bekommen, der aus der Nähe durch seine Einzellaute gewisse Defekte überdecken würde. So verfahre auch ich.
Das Bild des Künstlers ist die Seele. Und wie nützlich ist es, aus der Position eines abseits stehenden Beobachters auf sie zu blicken! Gut ist es, als Vergleich für sie den ganzen Reigen Von Tönen der allerverschiedensten Schattierungen, von dem Rührend-Angenehmen bis zu dem ganz Falschen und Grobem heranzuziehen. Wie nützlich ist es, selbst diesen Chor aus der Ferne anzuhören, aus der Position eines unbeteiligten Hörers! Besser, es sind viele Mängel bemerkbar, denn dann wird auch um so sichtbarer, wo und wie man sie berichtigen kann.
Aber wenn all dies objektiv gesehen oder für mich selbst eine mehr oder weniger genügende Rechtfertigung ist, was gibt mir dann den Mut, dieses Buch anderen, den Lesern, die es lesen möchten, zugänglich zu machen? Ich sage aufrichtig: Ein guter Ansporn für die Leser selbst ist es. So schreibt einer von ihnen: “Indem ich die tief erbauenden, wunderbaren, inspirierenden Gedanken aus dem “Tagebuch eines Mönches” lese und immer wieder lese, kann ich mich nicht enthalten, ihrem Verfasser zu bezeugen, welche demütige Rührung, welches Entzücken, welche erleichternden beseligenden Tränen und welche heftigen Regungen der Seele seine Zeilen bei mir hervorrufen! An manchen Stellen sind gleichsam meine eigenen Gedanken widergespiegelt, gekleidet in klare, lichte Bilder, ich finde die eigenen Gefühle wieder, die sich in lautere Formen ergießen, die eigenen Bestrebungen und Wünsche, die Begriffe, die hier mit solch einer erstaunlichen Tiefe, Fülle und Kraft ausgedrückt werden!” Und weiter: “Das Wort des Schriftstellers kann seine Kraft, seinen Einfluß, seine Wirkung auf die Seele nur in einem Fall verlieren, wenn man nämlich von seiner Heuchelei und Unaufrichtigkeit überzeugt ist! Dort aber wo jede Zeile, jeder Buchstabe Leben, Kraft, Wahrhaftigkeit atmet, wo jeder Gedanke aus eigener Erfahrung spricht, jeder Satz vergeistigt, von lebendigem Glauben durchdrungen ist, von dem flammenden Durst der Gemeinschaft mit Gott, dem brennenden Schmerz über die begangenen Sünden, dem feinen, erhabenen Verständnis seiner Berufung, dort fühlt man, daß “die Lippen aus dem Überfluß des Gefühls sprechen”, weil diese Worte in der Seele die besten und heiligsten Gefühle und Gedankengänge wecken, den Augen Tränen entlocken und die Liebe zu Gott aufflammen lassen, einhergehend mit dem zerknirschten Bewußtsein der Eitelkeit alles Irdischen... dort fühlt man, daß dies ein Aufschrei der Seele zu Gott ist, die von dem gnadenvollen Wehen des Geistes Gottes erfaßt ist und es dort keinen Raum für Falschheit und Unaufrichtigkeit gibt!... Beweisen kann man das nicht, das kann man nur tief in der Seele empfinden!”.

IN DER UMARMUNG DES VATERS
“Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, er lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn” (Lk. 15,20).

1. Das Leben in der Umarmung des Himmlischen Vaters – das ist wahrhaft das Leben eines Mönches. Der Mönch ist ein verlorener Sohn, der...

 

Anm. OID: Leider liegt uns der Zwischenteil aus Bote 1999, 2 noch nicht vor.

 

Bote 1999, 3

6. O Du, der du mir Deinen wunderbaren, gnadenreichen Namen verliehen hast1, Vorläufer des Herrn, Himmlischer Beschützer und mein Schutzengel! Mache mich zum Nachahmer nicht nur Deines Namens, sondern auch Deiner wunderbaren Tugenden und Werke! Den Geist, der in Dir war, stähle auch in mir – durch die beständige Erinnerung an Dein wundersames Leben, durch die unentwegte Vergegenwärtigung Deines begeistert-askesegeprägten Angesichts! Es gibt unter den von den Frauen Geborenen keinen Größeren als Dich! Sei all dies für mich durch Deine Hilfe, Deine Unterweisung, Deine Beschirmung!1895.
7. Ich weiß nicht, bin ich prädestiniert zur Erlösung oder zur ewigen Qual... Aber darf mir vor dieser Ungewißheit bange werden, darf ich an meinem Heil verzweifeln? Möge mir mein Richter und Gott verzeihen, wenn ich mich in dem Glauben zu beruhigen suche, daß Er, wenn ich selber dem nicht entgegenwirke, auch Seine Vorbestimmung über mich ändern kann, meine tränenreiche Reue und mein Flehen entgegennehmen kann, und ähnlich wie im Falle des alten Ninive, auch bei mir Sein Urteil in Erbarmen verwandeln kann, wobei dies Seinen ewigen Gesetzen der Wahrheit und Barmherzigkeit keinerlei Abbruch tut.1895.
8. Was wirst du Gott, dem Gerechten Richter vorweisen, meine verruchte Seele, wenn du einst des Körpers, in dem jetzt deine Leidenschaften nisten und wie Geschwüre sich ausbreiten und wachsen, entblößt sein wirst? Wenn du letztere, des Leibes entblößt, dieser Hülle beraubt und du dich so siehst, wie du bist: Nicht der Leib zieht dich zur Sünde, sondern du selbst machst ihn zum willfährigen Werkzeug deiner scheußlichen Lüste und Leidenschaften. Jeder deiner Wünsche ist Leidenschaft, jeder deiner Impulse Gestank, jede deiner Regungen Abscheulichkeit. Von nichts werden sie dann gedeckt, mit nichts gestillt, sie sind nicht zu sättigen! O, wie wird deine Seele dann erbärmlich sein, unfähig zum geistigen, ewigen, himmlischen Leben! Wagst du dann zu behaupten, daß dein Gott auch einen einzigen Seufzer annimmt, auch auf ein einziges Flehen und Verlangen hin Erbarmen schenkt? Ja, Er ist erbarmungsreich und liebt den Leidenden und „in einer Stunde würdigte Er den guten Schächer des Paradieses“, der an der Schwelle des Todes zu Ihm rief und ebenso schnell gerechtfertigt wurde; gleicherweise den Zöllner, der aus der Tiefe der Seele zu Ihm aufseufzte... aber dem ersten erwies Er Sein Erbarmen deshalb, weil in dessen Situation die Aufrichtigkeit und die Kraft des Wort-Gebetes sich nicht mehr im Gebet der Tat ausdrücken konnte. Und den zweiten rechtfertigte Er deshalb, weil die Aufrichtigkeit und Kraft des Tat-Gebetes schon solcherart waren, daß man sie bereits nicht mehr in Worte fassen konnte, weil kein Schluchzen, keine Schläge auf die Brust noch etwas hinzugefügt hätten. Ist etwa deine Lage solcherart, daß diese Beispiele zu deinem Trost und deiner Beruhigung angebracht wären? Nein, du bist jung, stark, voller Leben und Kraft, um alle Früchte, die der Buße würdig sind, zu erbringen... erweise dich bereit dazu! Ziehe durch sie die Gnade Gottes herbei, welche darauf wartet, daß du nur deine Hände zu ihr ausstreckst, sie mit ganzem Herzen ersehnst. Sie könnte dir all dies geben, denn schon längst ist sie bereit, dich mit ihrer so lange verborgenen Umarmung zu umfangen! 1895.
9. Uns Unwürdigen, von sündiger Ergötzung Übersättigten, ist es gar unmöglich, die Süße der lautersten Liebe zum Herrn zu erfahren. Über uns kann dasselbe gesagt werden, was der Teufel über Hiob sagte: „Ist Hiob umsonst so gottesfürchtig?“ (Job 1,10). So auch wir: „Lieben wir, ohne etwas zurückzuerwarten, falls wir den Herrn überhaupt lieben?“ Nein, wenn wir auch lieben, dann kann unsere Liebe nicht umhin, viel von ihrer Kostbarkeit und Reinheit zu verlieren – wir sind uns nämlich bewußt, daß wir nicht umsonst lieben, daß wir zahlungsunfähige Schuldner vor Ihm sind, daß wir einfach lieben müssen, daß wir Ihn dafür, daß Er uns solche Güter schenkt, uns so unzählige und so riesengroße Sünden verzeiht, lieben müssen. O wie selten sind solche selige Seelen unter uns, für welche die Liebe zum Herrn nicht nur eine verbindliche Pflicht und die Entrichtung des Geschuldeten ist, sondern das allerreinste Opfer, ein Geschenk völlig freier, uneigennütziger Art, zwar im Bewußtsein von „Das Deine von dem Deinen“, aber ohne den geringsten Anflug von Eigennutz und Gefühl der Verpflichtung.1896.
10. Ich liebe oder ich hüte ehrfurchtsvoll das Leben, weil es ein Vorhof zum ersehnten, seligen ewigen Leben ist! Ich fürchte und zittere vor dem Tod, weil er das Ende aller uns möglichen Anstrengungen ist, durch welche man sich Eingang in das Himmelreich veschaffen kann. Möge es Deinem heiligen und allguten Willen, Herr, wohlgefällig sein, mein Leben zu erhalten, aber nicht zur Vermehrung von Sünde und Laster, sondern zum Erwerb aller Früchte des Glaubens und der Liebe zu Dir! Möge ich nicht außerhalb Deines Gemaches stehen ob meiner Sorglosigkeit, Erschlaffung und Sündenliebe! Gewähre mir Herr, daß wenigstens das Ende meines Lebens christlich-gut, ohne Schande, friedlich sei! Möge mein letzter Seufzer einer der Zerknirschung über meine Sünden sein! Möge meine letzte Bewegung ein ehrfürchtiges Sich-Bekreuzigen sein, mein letzter Schrei der heißersehnte Ausruf: „Gedenke meiner, Herr, in Deinem Reiche!“, „Herr, nimm meinen Geist in Frieden auf!“.1896.
11. Wie lange, o Herr, läßt Du zu, daß ich der Sünde willfahre, in den Leidenschaften schmachte? Habe Erbarmen, Sanftmütiger, Gütiger, Raschhörender! Du bist Liebe: Liebe mich! Du bist Wahrheit: Belehre mich! Du bist Kraft: Stärke mich! Du bist Heiligkeit: Heilige mich! Du bist das Dreisonnige Licht: Suche mich heim, läutere und erleuchte mich! 1896.
12. Du offenbartest Dich mir, Herr, in den wunderbaren Werken Deiner Schöpfung und in den wundervollen Schicksalen Deiner Vorsehung! Du offenbartest Dich in den schrecklichen Verkündigungen Deiner Kraft und in dem stillen Hauch Deiner grenzenlosen Sanftmut und Gnade! Du offenbartest Dich in der freudigen Kunde über die wahrhaft Glückseligen und in den rührenden Berichten über die unglücklichen Leidensdulder! Du offenbartest Dich im tröstlichen Wohlgefallen über die lichten Werke der Menschenhände und in der Betrübnis über die finsteren Taten ihrer Böswilligkeit! Du offenbartest Dich in dem glücklichen Lächeln der durch Dich Gesegneten und in dem bitteren Seufzer der von Dir Verworfenen! Du offenbartest Dich in der Begünstigung der Dich Liebenden und in dem Hinabstürzen der Dir verwegen Ungehorsamen! Du offenbartest Dich in den Werken Deiner Menschenliebe und in den fürchterlichen Heimsuchungen Deines gerechten Zornes! Du offenbartest Dich im Durst nach allem Guten und Heiligen und in der Abkehr von allem Bösen und Unreinen! Du offenbartest Dich in der Labung an allem Ewigen und Unverweslichen und im Bewußtsein der Leerheit alles Eitlen und Schnellvorübergehenden! Du offenbartest Dich in den unvermittelten süßen Entzückungen meines Geistes durch Deine Gnade und in der unwillkürlichen Sehnsucht meines Herzens! Du offenbartest Dich in dem eifrigen Streben nach der Wahrheit und Frömmigkeit und in der behutsamen Vermeidung jeder Schmeichelei und Gesetzwidrigkeit! Du offenbartest Dich mir, Du guter Hirte und Tröster meiner Seele, in den gnadenreichen Tröstungen und Gaben des ersehnten pastoralen Dienstes, in den Mühen und Sorgen um die Errettung der Dich liebenden Menschenseelen, in der Manifestation Deiner Gnadenkraft und der unendlichen Gnade ob meiner Unwürdigkeit. Amen. 1896.
13. Hast Du uns, barmherziger Schöpfer, aus dem Nichtsein gerufen, um uns in der Knechtschaft der Sünde des Fleisches und des Teufels schmachten zu lassen? Nein: „Ein Bild bin ich Deiner unaussprechlichen Herrlichkeit“, das eigenwillig aus dem ersehnten Vaterland herabgefallen ist! Aber hole zurück, o Allgütiger, hole zurück, was Dir zurecht gehört, hole das Deinige zurück, den Funken und Atem Deiner Gottheit, der in fremden Landen verschmachtet, unter dem Joch frecher und grausamer Unterdrücker! Dulde nicht eine so freche Schändung Deines Ebenbildes, das Dich darstellt und der Abglanz Deiner Vollkommenheit und Herrlichkeit ist. Hebe auf, Herr, die Gefangenschaft der Deinigen, der Trauernden, der zu Dir Strebenden, Dich Suchenden und nach Dir Dürstenden! Erweise uns Deine Kraft und Dein Heil! Möge uns nur Deine Siegesstimme erschallen, und unsere Feinde, die unsere Seele in Entfremdung, Ungehorsam und Vernachlässigung Deiner fesseln, werden zerstrichen! Zu Dir, Herr, streben meine Wünsche: „Ich habe gesündigt, aber ich bin nicht von Dir abgefallen, Gott, noch haben wir unsere Hände zu einem fremden Gott erhoben!“. Errette uns: Das wird kein Zwang gegen unsere Freiheit sein, kein Niedertreten unseres Willens, keine Vergewaltigung des uns in seiner Knechtschaft haltenden Satans, denn wir sind Dein, und Du bist unser wahrer König, Gebieter, Herr, Hirte und barmherziger Vater! 1896.
14. Wenn du zweifelst, auf welche Weise sich unser Körper nach der Auferstehung so wandeln kann, dann rufe dir – damit es dir nicht zugleich seltsam erscheine, daß er vollkommen und in vergeistigter Form Haupt, Hände, Füße und alle anderen Glieder haben wird – jene in Erinnerung zurück, die Leidenschaftslosigkeit erlangten, jene, die im geistlichen Leben sich erhoben und schon hier so lebten, als ob sie überhaupt nicht im physischen Leibe wären; sie vertieften sich gänzlich in die Betrachtung der Geheimnisse und Schönheiten der geistlichen Welt, sie lebten fast nur dem Geiste und seinen Bedürfnissen und Kräften nach. Ähnlich wie wir jetzt mehr im Fleisch und dem Fleische nach leben und uns so sehr im Fleisch wohlfühlen, daß wir gänzlich den Geist vergesssen, ihn nur noch ganz schwach wahrnehmen, begreifen und fühlen, seiner nur wenig bewußt sind, werden wir uns dann, wenn wir mehr nach dem Geiste und im Geiste leben, so sehr in den Geist vertiefen, daß wir alles über den gegenwärtigen verweslichen Körper völlig vergessen. Ebensowenig wie wir jetzt den Geist bemerken, werden wir dann unseren Körper wahrnehmen und fühlen. Jetzt fühlen, beachten und pflegen wir viel eher unseren Körper, weil er sich in Diskrepanz zum Geist befindet, und das Übergewicht in dieser Unstimmigkeit ist gänzlich auf seiten des Körpers, aber dann werden sich Geist und Körper von diesem Gegeneinander Abstand nehmen, sich versöhnen und in vollkommener Harmonie und Schönheit in einen einzigen, integralen und unteilbaren, gottgeschmückten, gottvereinigten, in allen seinen Teilen gottgeheiligten Menschen verschmelzen. 1897.
15. Bis wohin entstellt nur der Satan meine Seele, fesselt sie in seinen Netzen: Ich bin fähig, sogar in einen Gegenstand des Stolzes zu verkehren, daß „Hochmut“ in mir ist... Ich las in den Werken der Heiligen Väter, daß die Dämonen, die alle Kräfte im Kampf mit den Asketen erschöpft hatten und sie nun auf der unbesiegbaren Höhe der Vollkommenheit und Leidenschaftslosigkeit stehen sahen, ihnen den Stolz einflösten, der leider nicht selten sogar die Allergottgefälligsten in den verderblichen Abgrund reißt. Und schon stelle auch ich eine nach Stolz riechende Mutmaßung an: Wenn die verruchten Menschenhasser auch auf mich ihre Pfeile des Hochmutes richten, dann bedeutet das, daß auch ich „nicht so etwas ganz Gewöhnliches“ bin. O verruchte Schmeichler und Verleumder! Wie lange duldet der Gebieter noch eure hinterlistigen und frechen Schmähungen der Ihm Ergebenen und der euch stets Verfluchenden! Gebiete ihnen Einhalt, Herr, auf daß sie nicht Dein Ruhegemach – unsere Herzen – aufreizen, und ihre hinterlistigen Netze zerreiße, und zerstäube sie wie lächerlichen Staub! 1897.
16. „Einen anderen Glanz hat die Sonne, einen anderen Glanz hat der Mond, einen anderen Glanz haben die Sterne“ (1. Kor. 15,41). Ein anderer Ruhm ist auch mir Unwürdigem vom Herrn bereitet, wenn ich nur um Seinetwillen alles verachten könnte, was mich nicht zu Ihm führt. Herr! Wieviel kann ich Dich aufnehmen, auf daß ich Dich aufnehme! Daß ich Dich aufnehme nach meiner Kraft und Bestimmung, vorbezeichnet durch Deine Gnade und die Anteilnahme an Deinem Göttlichen Erbe, denn jedes Geschöpf nimmt nur so viele Gaben Deiner Gnade auf, wie es ihm seine Dir widerstrebende Natur gestattet. Ich aber, Unwürdiger, bin berufen, nicht nur Deine Gaben zu empfangen, sondern ganz Dich Selber, den Unbegreiflichen und Wunderbaren Gott! Auf daß ich nicht verschwende diese meine Kraft, diese meine Vorbestimmung! Auf daß ich nicht Dich verderbe, diese ruhmreichste Deiner Gaben an mich, welche unsere schwache und ohnmächtige Natur eben aufzunehmen fähig ist! Auf daß ich Dich aufnehme, nicht nur dem Maße meines, sondern vielmehr Deines Willens nach, durch den Du uns der allersüßesten Vereinigung mit Dir teilhaftig werden läßt! 1897.
17. Erleuchte unsere Augen, Herr, damit wir alle hinterhältigen und arglistigen Pfeile des Feindes erkennen und abwenden können! Lasse nicht zu, daß wir uns durch seinen Stolz und Eigenruhm verletzen und wir Deiner Gaben unwürdig werden, wenn Deine Kraft in unserer Ohnmacht geruht, das Große und Ruhmreiche zum Nutzen unserer Seelen zu vollbringen. Denn der Böse kennt keine Ruhe Tag und Nacht, er macht sich lustig über unsere unglücklichen Seelen, und sogar unser Bestreben, Dir wohlgefällig zu sein, verkehrt er in einen Dienst seiner frechen und verderblichen Bosheit, durch welche er versucht, seine erbärmliche Ohnmacht und Niederlage statt an Dir an uns zu rächen. O weh, wer außer Dir, Menschenliebender, würde sich unserer erbarmen und uns, den genötigten Teilhabern an seiner verzweifelten Bosheit, beistehen! Wer außer Dir zerstört diese erbärmliche und bittere Gefangenschaft oder wendet diesen Feuerbrand (Stolz und Eigenlob) ab, der in einem Augenblick alles, was die Seele an Dir wohlgefälligem Dienst erworben hat, vertilgt? 1897.
18. Dich, liebreicher Gott, wünschte ich alleine zu „wollen“ und Dich allein begehrte ich zu suchen und zu erwerben! Laß entstehen auf meinen Wunsch hin das „Verlangen nach dem Äußersten“ und auf meine Bitte hin das „Erbarmen der unergründlichen Tiefe“! Möge ich auch dessen unwürdig sein, aber es wird dann ein umso höheres Geschenk sein, nämlich eine Gabe Deines Erbarmens. Wer ist Deiner, der höher als alle erhabenen Werte ist, würdig? Mögen die Wege meines Herzens auch nicht seinem wahren Durst entsprechen, aber wer ist seliger und weiser als Du, der Schöpfer und Urheber aller? Möge ich auch unfähig sein, Deine Gaben zu fassen und zu wahren, aber wer ist stärker als Du, der Allgute, der alle Ohnmacht durch Seine Kraft überwältigt? Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht! (Phil. 4,13). Möge mein Wunsch auch mangelhaft sein und ebenso mein Gebet, aber von Dir ist „jede gute Gabe“, selbst die Willenskraft ist nicht aus uns. Ohne Mich könnt ihr nichts tun! (Jh. 15,5). Denn von Dir ist „das Wollen und das Vollbringen“ (Phil. 2,13), „jede vollkommene Gabe“ ist von Dir, dem Vater des Lichtes. 1897.
19. Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße, mache mich zu einem deiner Tagelöhner! (Lk. 15,18-19). Schaue, wessen du verlustig gingst und was du nun anstrebst! Du verlorst die Sohnschaft und nun suchst du die Knechtschaft. Du verdarbst die Verwandtschaft und möchtest nun wenigstens das Band des Tagelöhners aufrechterhalten. Du hast die Gemeinschaft der Liebe nicht geschätzt und tröstest dich nun wenigstens an dem Gefühl der räumlichen Nähe! Habe doch Erbarmen, Allguter, Gutmütiger und Menchenliebender Himmlischer Vater! 1897.
20. In der Tat: Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt (Röm. 8,26). Rufe ich im Gebet: „Erbarme Dich Herr“, so fürchte ich als Antwort zu hören: „Erbarme dich deiner selbst! Habe Ich denn je jemanden verdorben?“. Würde ich im Gefühl der Hilflosigkeit aufschreien: „Hilf mir!“, entlarvte ich mich durch den Hinweis auf jene, die „alles vermögen durch den sie Stärkenden“ – Denn Meine Kraft zeigt sich in der Ohnmacht (1 Kor. 12,). Stöhnte ich unter Tränen „Rette mich!“, fiele ich in tiefe Schande, denn ich hörte: „Bin Ich denn nicht für alle der Retter?“. Begänne ich zu flehen „Zeige Dich barmherzig an mir!“, so geriete ich in bitterste Schmach, denn ich hörte „Bin Ich etwa hartherzig, daß du durch meine Schuld verdirbst? Sei zu dir selber barmherzig, du meine geliebteste und ersehnteste Schöpfung! Höre auf, dich selber zugrunde zu richten! Höre auf, Meine Liebe zu verwerfen, Mich zu fliehen, der Ich dich mit Meiner Hilfe und Rettung, die immer für dich bereit sind, suche! Höre auf, Mich meinem Feind vorzuziehen! Höre auf, Dem neue Wunden zuzufügen, Der für dich gelitten hat und gestorben ist! Höre auf, das Herz, das für dich offen ist und niemals mehr zuheilt, mit einer Lanze zu durchbohren und zu zerreißen!“ 1897.
Fortsetzung folgt

21. Unsere Tugenden sind alle irgendwie von defektem Charakter. Bei allen tun wir als verkommene Knechte nur das, was uns gebührt zu tun, erwerben wir nur das, was uns nötig ist zu haben, nämlich: die Wiederherstellung des Verlorenen, die Befreiung aus der Knechtschaft, die Rückgewinnung der Freiheit aus der Gefangenschaft der Sünde, der Welt und des Diabolus. Der allerhöchste Impuls zur wahren Tugend ist das Eingedenksein der grenzenlosen Liebe Gottes zu uns in den Versuchungen der Sünde, das Bewußtsein dessen, daß wir zwar Knechte der Sünde sind, aber in freiem Willen über unsere Freiheit verfügen können: Daß wir in einem gegebenen Falle vermögen, nicht zu sündigen – wenn wir jedoch sündigen wollen und nicht versuchen, uns zu enthalten, dann heißt das, daß wir den Herrn nicht achten und Ihm nicht gehorchen möchten! 1897.

22. Herr! Ist nicht etwa in den Augenblicken der allerbrennendsten fleischlichen Regungen das immer noch vorhandene Verlangen, die Jungfräulichkeit in Reinheit und Unversehrtheit zu bewahren, trügerisch, unrealisierbar und keiner Beachtung wert? Aber warum erscheint es überhaupt und ist so lebendig in einer ihm anscheinend untypischen Gesellschaft? Lasse nicht zu, o allerreinste Makellosigkeit, daß so ein wertvoller Schatz in Minuten schwerer Versuchungen zerstört werde! Erhalte und bewahre in unzerstörbarer Reinheit und unverdorbener Jungfräulichkeit Seele und Leib! Dulde nicht, daß die Liebe zu Dir, die mein Herz erwärmt und mich um Deinetwillen zu dem heiligen Bußwerk der Jungfräulichkeit ermutigt, erlösche und verkümmere! Gestatte nicht, daß das Leibliche in dem harten Kampf um das Spirituelle irgendwann das Übergewicht gewinne... Sende mir Deine gnadenreiche und allmächtige Hilfe! Möge ich Dir als dankbares Opfer Deiner Liebe das reine und durch keine fleischlichen Erregungen und Erlabungen befleckte Herz darbringen! 1897.

23. Die Jungfräulichkeit ist eine große Gabe Gottes an den Menschen. Aber von ihm aus gesehen ist sie gleichzeitig ein sehr großes asketisches Werk, das unglaubliche, fast übermenschliche Anstrengungen erfordert. Die allervollkommensten Junggesellen, die die Stufe völliger Leidenschaftslosigkeit erreichten, gaben ohne sich zu schämen zu: Wenn sie durch alle Stufen und Arten der Versuchungen hätten gehen müssen, dann „würde kein Fleisch gerettet!“ Diesem Askeseopfer widerstrebt und stellt sich vor allem die ganze menschliche Natur in dem allerheftigsten, unwiderstehlich-mächtigen Kampf entgegen. Auf diesen Kampf ist hauptsächlich die Forderung, „sich selbst zu verleugnen“, zu beziehen. Wie jämmerlich und schwach ist der Mensch! Wie viele gute Anwandlungen und Vorsätze hat er, aber wie wenig Kraft sie zu verwirklichen! Hat das nicht die Enthaltsamen veranlaßt, sich vor den Blicken der Menschen zu schützen? Hat nicht die Jungfräulichkeit und der Wunsch sie zu bewahren, sie mehr als alles andere in Einöden, Höhlen und Erdschluchten getrieben? 1897.

24. Wehe uns, die wir den „Augenblick“ nur des Jetzt leben, und die Zeiten der unendlichen Ewigkeit vernachlässigen!. Um einer Minute willen, um der Lust der schnell vorübergehenden Genugtuung des Fleisches willen vergessen wir die höheren Forderungen des Geistes und stürzen uns in das Laster. Auf diese eine Minute, sie zu ereilen, laufen fast all unsere Gedanken, Bestrebungen, Gefühle hin. Nicht beschäftigt uns das Vergangene, das unnütz und unwiderbringlich Verschwendete, und uns sorgt nicht das Zukünftige, zieht nicht das Himmlische, Ewige an... Ach, der Tod mitten im Leben! Wir sind uns nicht einmal bewußt, daß wir im gegenwärtigen Augenblick leben, und nur dann fühlen wir ihn, wenn wir mit unserer Unersättlichkeit den Mangel oder das Fehlen der gewohnten Lebensgüter empfinden, wenn der Kelch der Bitternis unsere Lippen berührt... Wie einen unbekümmerten Schlaf Schlafende irren wir unter den schnell schillernden Gespenstern des Nichtigen, Vorüberfliegenden, Endlichen, Zeitlichen umher und gelangen nicht zum Bewußsein des einzigen wahren und wirklichen ewigen Lebens! 1897.

25. Die großen Verfechter der Freiheit des Lebens hatten die edle Gewohnheit, Hilfe und Stärke in dem Segen der höheren Kräfte zu suchen, und bewegt von diesen erhabenen Impulsen strömten sie zu den großen Kämpfern um die Freiheit des Geistes in die Einöden! Steht es nicht auch dir wohl an, der du davon träumst, die wahre und ersehnte Freiheit des Geistes in dir zu entfalten und zu bewahren, in dem heiligen Werk der Enthaltsamkeit – wenn du zum harten Gefecht mit den Unterdrückern dieser Freiheit in die Welt hinausgehst – mit Glaube und Hoffnung Hilfe und Stärkung von oben zur Verwirklichung deiner guten Absichten zu suchen? Nämlich bei jenen und durch jene, die bereits einen vollen Sieg über sich errangen und diesen auch anderen vermitteln können! Helft ach, o heilige Zeloten der Enthaltsamkeit, auch mir, alle lustvollen Begierden abzuwerfen! Erhalte, stärke und schütze mich, Herr, durch ihr Eintreten in den Augenblicken des schweren Kampfes gegen die Versuchungen, „wenn meine Kraft schwindet“! Und das edle Verlangen meines Herzens, das vor Liebe zu Dir Einzigem dürstet, lasse nicht nur ein Wunsch sein... Lenke mein Verstehen, gib mir Weisheit, Trost und suche mich heim, o Herr! 1897.

26. Schnell und brausend rollt die Welt ihre Wellen, mit allen ihren Begierden, ihrer Hast, Eile und ihren Stürmen. Dann verschwinden alle Verlockungen der Begierden, es zerstreuen sich schneller als Staub und Rauch alle Genüsse der Lüste; und im Herzen bleibt allein die Wehmut übrig – die einzige feste und bleibende Spur des Augenblicks-Vernügens: Die Wehmut und das Stöhnen darüber, daß wir, die wir nach Höherem streben und dessen Süße und Vorzüglichkeit wohl kennen, es für die zeitlichen Ergötzungen des Fleisches hingaben. 1897.

27. Der Herr, der wunderbar in den Seinen ist, präsentiert der Welt die unzähligen Scharen heiliger Männer und Frauen in ihren gottesfürchtigen und mühevollen Lebenswegen, welche sogar die Engel staunen lassen und die uns Vorbilder zur Nachahmung sein mögen. Wie bitter ist also das Eingeständnis, daß wir taub und blind für solch einen Ruf und Fingerzeig Gottes sind! So sollte uns ein Grund zur Klage sein: Wir, die wir viel mehr und tiefer fallen können als viele von ihnen je gefallen sind, könnten uns doch dank der gnadenvollen und allen zugänglichen Hilfe Gottes auch solches Verzeihen und solche Gnade erwirken! Aber so sehr haben wir uns schon an das in Selbstvergessen von uns getrunkene, verderbliche Gift des Teufels gewöhnt, daß wir nicht einmal bemerken, wie sogar unser Streben, den Askesewerken und dem Ruhm der Freunde Gottes nachzueifern, vergiftet und so ganz mühelos vom Teufel in einen ruchlosen und wahrhaft diabolischen Neid und Stolz verkehrt wird. Schüttle das schwere Joch des Bösen von dir ab, o Mensch! Wofür ist dir denn die Freiheit gegeben, etwa um sie so billig deinem und Gottes Feind zu verkaufen! Dir ist die potentielle Möglichkeit und der Drang zum Fallen anheimgestellt, aber nur dann bist du dir selbst kein Feind, wenn du dieses peinliche Vermögen mit einem anderen überdeckst, nämlich, wenn du dich durch Abhauen und Abtöten der physischen Leidenschaften noch zu Lebzeiten hoch über die Erde aufschwingst, gleich der seligen Maria von Ägypten – wenn du also solch eine Höhe der apathia und Selbstverleugnung erreichst, daß das Feuer dich nicht brennt, das Wasser dich nicht ertränkt, das Schwert dich nicht erbeben läßt, die Lust dich nicht aufreizt, die Begierde dich nicht überwältigt, die Leidenschaft dich nicht verletzt, und alle Schätze und Güter der Welt dir nichts gelten. Und all das bei voller Freiheit und dem Vermögen, Lüste zu erfahren und Schätze zu gewinnen. Wie viele solcher Gottesfreunde gab es, die alles um Seinetwillen bezwangen, die, wenn sie Pech berührten, nicht schwarz wurden, die das Feuer nicht versengte, die die legalsten und unschuldigsten Vergnügungen als langweilig und ihre Liebe zu Gott beeinträchtigend empfanden! Wie viele gab es solcher, welche durch die Liebe zum Herrn und zur Reinheit sogar die so brennnende und alles beherrschende Lust des Ehelagers besiegten und die Umarmungen der himmlischen väterlichen Liebe den Umschlingungen junger, unverdorbener Gefährtinnen vorzogen. O gottgeliebte, engelgleiche Kinder Gottes, Schätze des Himmelreiches, Schmuck der ganzen Menschheit und der Kirche Gottes! Helft auch mir Verzweifeltem, alles um des Herrn willen zu überwinden, was nicht zu Ihm führt, was Seinem Sieg über mich und Seiner ganzheitlichen, ungeteilten Herrschaft in mir im Wege steht! 1897.

28. Wenn du in dir die höheren Impulse des Geistes zu wahrer Reinheit und ungeteiltem Dienst am Herrn empfindest, was für Beweise sind dann noch vonnöten, damit dir klar werde, wie schwer du sündigtest, als du der Stimme Gottes, der dich zur höchsten Bestimmung rief, nicht folgtest? Fliehe nicht vor dieser Stimme, tief betrübt und dich grämend, wie jener Jüngling der „nicht weit“ vom Königreich Gottes war, aber durch seine Verhaftung an die Erde und das Irdische dessen Tore für sich verschloß, „denn er hatte viele Güter“ (Mt. 19,22). Alles hatte er getan, auf ihm ruhte bereits der liebende und mitleidsvolle Blick des Herrn und Retters, aber in einem fehlte er: Er war Gott nicht gehorsam und verlor damit alles. Herr! Laß nicht zu, daß sich solches auch an mir wiederhole! Da dürstet meine Seele ganz danach, Dein zu sein, der Welt und Sünde fern zu bleiben, ganz dürstest sie, Dich zu lieben, Dir Einzigem zu dienen, zu gehören, Dich alleine anzubeten! Möge ihr nach ihrem Verlangen geschehen... 1897.

29. Hättest du uns wohl dafür, o Herr, ins Dasein gerufen, daß Du uns nicht verschonen wolltest? Ich zittere vor Deinem Gericht, bei dem Du uns sagen wirst, daß Du alles tatest und bereit warst zu unserem Heil zu tun: „...und ihr habt nicht gewollt“ (Mt. 23,37). Erwecke, Gott, unser schlafendes Gewissen, auf daß darin kein Makel von Sünde übrigbleibe, für den es stumm, taub, blind und gleichgültig wäre. „Oh Herr, mein König, laß mich alle meine Versündigungen sehen“, wie geringfügig und unwichtig sie uns auch deuchten: Eine jede von ihnen ist eine Verleugnung Deiner, denn Du bist ganz Lauterkeit und reinstes Heil! Jede davon ist eine Freveltat, denn sie entlarvt Unaufmerksamkeit und Ungehorsam Dir gegenüber! Jede davon ist eine Unzucht und ein Ehebruch in unserem Geiste, denn Du, Herr, Alleiner, hast alles Recht auf unseren Geist, als unser wahrer, gesetzlicher, liebender Bräutigam, als der Bräutigam der Dir angetrauten Seelen! Du alleine solltest von unserer Seele begehrt und vereint mit ihr sein! Komm doch, Ersehnter! Liebe den Dich Liebenden, der gerechterweise von Dir zu hassen wäre! Suche auf den Dich Suchenden, der gerechterweise von Dir zu verwerfen wäre! Rette den in der Knechtschaft der Sünde Verschmachtenden, den durch seine eigene Schuld Gefallenen! Reiche mir die Hand zur Hilfe, der ich umtost bin von den Wellen der Leidenschaften und durch Erschlaffung der Liebe und Zweifel im Glauben in ihnen zu versinken drohe! 1897.

30. Wenn es mir erlaubt ist, im Herzen einen flammenden Wunsch zu hegen, sollte ich ihn dann nicht Dir, „meinem Höchsten Begehren“ – dem Zuvorkommen und der Erfüllung jedes edlen Verlangens – mitteilen? Also im Wagnis auf das Erbarmen dessen, der sprach „Bittet und es wird euch gegeben“ (Lk. 11,9), flehe ich Dich an, Herr, wie der alte Salomon: Nicht brauche ich Reichtümer, noch Ruhm, noch Schönheit, nicht einmal die Weisheit, die diesem so ersehnt war... Kröne mich, Herr, mit der unverweslichen und unverwelklichen Krone der Jungfräulichkeit, die Dir so wohlgefällig, Deiner so würdig und Dir so angenehm ist! Möge dieser Wunsch meines Herzens nicht verstummen, Herr, solange bis er erhört wird! Blicke mit Deinem mitleidsvollen Auge, o Herr, auf den, der unentwegt zu Dir ruft. Wenn ich dieser großen Gabe unwürdig bin, dann zeige Dein unermeßliches Erbarmen, würdige mich dessen! Wenn mein Verlangen nicht rein ist, so läutere und heilige es zu einem Dir angenehmen und reinen Opfer. Wenn es unzulänglich und unzuverlässig ist, so festige und stärke es! Wenn ich zu schwach dafür bin, dann beraube mich nicht Deiner gnadenreichen Hilfe, denn nicht auf meine Kräfte hoffe ich, sondern „alles vermag ich durch den, der mich mächtig macht“ (Phil. 4,13). Wenn es mir bei meiner äußersten Armut, Unvernunft und Unreinheit nicht möglich ist, so mache es möglich, denn „was bei den Menschen unmöglich ist, das ist Dir möglich“ (Lk. 18,27). Ich weiß wohl, daß uns nichts möglich ist ohne flammende, unauslöschliche Liebe zu Dir. Verletze ach mein Herz, Herr, durch Liebe zu Dir, o unsere unaussprechliche Süßigkeit und unauslotbares Erbarmen! „Ergieße über mich, Gott, Deine große Gnade!“ Um so höher, heiliger und Dir würdiger ist sie, als ich mich unwürdig vor Dir erweise! In ihr „geschehe mir Dein Wille!“.Sie sei mein tägliches Brot! Möge sie mir die Nachlassung meiner maßlosen Schulden sein, möge sie auch mein Gemüt zum Allverzeihen und Arglosigkeit hinneigen. Auf daß sie mich vor aller Versuchung und Verleumdung des Bösen bewahre! Möge sie Geist und Kraft all meiner Gebete zu Dir sein, Himmlischer Vater, möge sie immerdar meine Seele zu Dir entzücken und hinwenden! 1897.

31. Meine Gebieterin und Herrin! Durch Dein Eintreten und Deine Fürsprache vor Deinem Sohn und Gott befreist du sogar sündige Seelen aus den höllischen Tiefen! O Erbarmungsreiche! Um der Rettung der Sündenbeladenen willen verläßt Du die Seligkeit des Himmels, entsagst Du dem paradiesischen Frohlocken und schreitest auf unserer sündigen Erde einher, um diese Seligkeit und Freude in der Auffindung sündiger Seelen und ihrer Heimführung zu Gott zu suchen. Geh auch an mir nicht vorüber, Allreine! Vor allen anderen begegne ich Dir auf dem Weg, ich, der sündigste und verzweifelste der Menschen! Hilf mir, meine Freude, rette mich, rette mich um Deines geliebten Sohnes und unseres Herrn willen, auf daß ich von Liebe, Freude und Dankbarkeit zu Dir bewegt mein ganzes Leben lang rufe: „Freue Dich, Gnadenreiche, freue dich Beglückte! Freue dich, Ersehnte, aller Heil und Segen!“ 1897.

32. Das ist also dein Vorzug gegenüber den Engeln: Auch wenn du zusammen mit ihnen rufst „Dein Wille geschehe!“, so bleibt dir dennoch die Freiheit und die verlockende Alternative, diesen alllguten und vollkommenen Willen Gottes zu verletzen. Herr! Sende einen Lichtstrahl Deiner Göttlichen Gnade in mein versteinertes Herz! Laß nur einen Tropfen Deines tautragenden Geistes in meine fruchtlose, dürstende Seele fallen! Das ist mein Vorteil: Obwohl ich so sündig und stinkend bin, wie auch nur ein Mensch sein kann, ich nur Staub und Asche bin, kann ich mein Herz zu Dir wenden, meine Lippen zum Lobpreis Deiner Herrlichkeit öffnen! Diese wird nicht gekränkt durch meine Geringfügigkeit, meine Verwegenheit und meinen Ungehorsamkeit gegen Dich, sondern vielmehr erleide ich den Verlust und kränke Dein Ebenbild, das von Dir in meinen unsterblichen Geist geprägt ist. Deine Erhabenheit währt in alle Ewigkeit: Kann das nichtige Geschöpf sie vermindern etwa? Vergib, o Herr, meine tiefen Fälle und gib mir Tränen, Dich zu rühmen und zu loben, und sei es aus der untersten Hölle! Zu Dir, zu Dir strebt immerzu mein Herz, und Du, Herr und mein Schöpfer, wirst es etwa verwerfen? 1897.

33. Traurig und bedauerlich ist es, wenn du zurück blickst auf die Vergangenheit. Wie viel wertvolle Zeit wurde ohne jeden Nutzen vertan! Wie viel Gutes hätte in dieser nicht wiederzubringenden Zeit getan werden können! Und wie viel dieser kostbaren Zeit wurde geradezu zum Schaden und zum Verderb der Seele vergeudet! 1897.

34. Ist euch nicht auch das Gefühl des allerbittersten Ärgers bekannt, wenn ihr irgendeine wichtige Arbeit fast zu Ende geführt habt und plötzlich merkt, daß ihr euch irgendwo verrechnet, vermessen, verwogen, geirrt habt, als ihr euch darauf verließet, genügend Material zu haben, das aber bei euch gerade knapp war, und das ihr nirge...

Anm. OID: Leider liegt uns der abschließende Teil des Textes noch nicht vor.