Das Wachsen zur Herrlichkeit Gottes durch die kirchlichen Mysterien und das Verharren im Gebet
Erzpriester Sergius Heitz
Mit Mysterienhandlungen begleitet die Kirche die Gläubigen auf ihrem Lebensweg: Geburt und Tod, Einfügung in den Leib Christi und Rückkehr in Ihn nach einem Abfall, Büß- und Leidenszeiten und Hochzeit sind Momente, die durch die kirchlichen Mysterien herausgehoben werden. Es handelt sich bei den Mysterienhandlungen also um das, was man in der lateinischen Kirche unter den Begriff der „Sakramente“ faßt. Allerdings decken sich Vorstellungsgehalt und -umfang von Mysterium und Sakrament nicht vollständig. Tertullian war es, der um 200 nach Christus den Begriff des Mysteriums erstmals mit „Sakramentum“ ins Lateinische übersetzt hat. Das brachte in der Folge einen Bedeutungswandel mit sich, der sowohl eine schärfere rechtliche Fassung als auch eine Einengung und Akzentverlagerung umschloß. Denn ursprünglich ist das Mysterium das, was durch Gott offenbart wird und doch unfaßbar bleibt. Und das ist zuerst und zutiefst Er Selbst in Seinem Sein und in Seiner Kraft, in Seiner Größe und in Seiner Güte, in Seiner Herrlichkeit und in Seiner Gnade, Er Selbst als der Eine und als Vater, Sohn und Heiliger Geist, Er Selbst als der Schöpfer und als der Erlöser. Man kann also von einem Mysterium der Dreieinheit Gottes reden, aber auch von einem Mysterium der göttlichen Schöpfung und Erlösung, wobei immer der Sachverhalt zugrunde liegt, daß Gott uns, Seinen mit Vernunft und freiem Willen begabten Geschöpfen, Anteil geben will an Seiner Herrlichkeit, d. h. an Seiner Schönheit, Seiner Güte, Seiner Kraft. Darum ist das Mysterium Gottes allein als Christusmysterium zu erfassen, d. h. als Mysterium von Christi Menschwerdung und Geburt, von Christi Sterben um unseretwillen und Seiner Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkunft und der Herabkunft des Heiligen Geistes auf Seine Jünger. So aber wird das Christusmysterium zum Mysterium der Kirche: Denn durch das Band des Heiligen Geistes sind auch wir hineingebunden in den Auferstehungsleib Christi, der die Kirche ist. Das ist unsere Erlösung und Verherrlichung mit Christus. Wie aber wird diese jedem einzelnen von uns zuteil?
Nach Gottes unerforschlichem Heilsratschluß sind eben dazu die Mysterienhandlungen der Kirche gegeben: vorab die Taufe als Initiation (Eingliederung) in den Leib Christi, die nicht nur den Taufakt als solchen beinhaltet, sondern auch die Myronsalbung und die Kommunion, die die Vereinigung mit Christus immer neu aktualisiert. Die Mysterien der Buße und der Krankenölung sind gesetzt, um Geist und Leib in besonderen Nöten Anteil zu geben an der Heilung der gefallenen Schöpfung. Ehekrönung und Mönchsweihen sollen zur Heiligung des Lebens in seiner Alltäglichkeit verhelfen. Doch auch die Bestattungsriten sind nach orthodoxem Verständnis Mysterienhandlungen. Sie galten als solche im übrigen auch in der westlichen Kirche bis zur scholastischen Festlegung der Siebenzahl der Sakramente im Mittelalter. Denn nach orthodoxem Verständnis wird der sakramentale Charakter einer kirchlichen Mysterienhandlung nicht primär durch signum und res, durch verbum und elementum, durch forma und materia sowie durch die Einsetzung vom irdischen Herrn bestimmt. Vielmehr sind die orthodoxen kirchlichen Mysterienhandlungen wesentlich gekennzeichnet durch eine Epiklese, d. h. durch eine Herabrufung des Heiligen Geistes, die der in apostolischer Sukzession und Tradition stehende Zelebrant vollzieht, ferner durch die Namensnennung derer, denen das kirchliche Handeln zugute kommen soll und schließlich durch die in der lebendigen Tradition der Väter vollzogene Form der rituellen Handlung. Auf diese Weise wird nicht bloß göttliche Gnade übereignet, sondern gibt sich vielmehr Christus Selbst den Seinen und wird erfahrbar für die Gläubigen. Insofern haben die kirchlichen Mysterienhandlungen nach orthodoxer Auffassung auch etwas mit mystischer Glaubenserfahrung zu tun. Mysterium und Mystik gehören hier noch auf ursprüngliche Weise zusammen. Darum gilt, was Wladimir Losski in Bezug auf Theologie und Mystik sagt, im besonderen auch für die kirchlichen Mysterienhandlungen und die Mystik:
„Die morgenländische Überlieferung hat zwischen Mystik und Theologie, zwischen der persönlichen Erfahrung der göttlichen Mysterien und dem von der Kirche ausgesprochenen Dogma nie eine strenge Trennung gemacht … Das Dogma, das eine geoffenbarte Wahrheit ausdrückt, die uns als ursprüngliches Mysterium erscheint, muß von uns in einer Hingabe gelebt werden, in der wir, statt das Mysterium unserer Verständnisweise anzugleichen, im Gegenteil über eine tiefe Wandlung, eine innere Umbildung unseres Geistes zu wachen haben, um der Mysterienerfahrung fähig: zu werden. Weit davon, daß sie einander widerstritten, unterstützen und ergänzen Theologie und Mystik einander. Die eine ist nicht möglich ohne die andere: Wenn die mystische Erfahrung ein Umsetzen des Gehaltes des allgemeinen ''Glaubens in persönlichen Wen ist, so ist die Theologie zum Nutzen aller ein Ausdruck dessen, was von einem jeden einzelnen erfahren werden kann“ .
Die mystische Erfahrung, von der hier die Rede ist, ist keine elitäre Gottesminne, die nur religiös besonders Veranlagten vorbehalten wäre. Sie ist vielmehr die unumgängliche subjektive Seite eines allgemeinen, objektiven Sachverhaltes, der uns mit unserer Taufe eröffnet ist, nämlich die Wiederherstellung unserer schöpfungsgemäßen Verbundenheit mit Gott durch Christi Erlösertod. So heißt es in einem Troparion des herrntäglichen Morgendienstes :
„Das Geschlecht der Sterblichen, das dem sündenliebenden Tyrannen unterworfen war, hat Christus durch Sein göttliches Blut befreit, erneuert und vergöttlicht. Denn herrlich hat Er Sich verherrlicht!“
Das Phänomen, um das es hier geht, hängt nach orthodoxer Auffassung zusammen mit der altkirchlichen Lehre von der Theosis, die nun kurz dargestellt werden muß, da sie für das Menschenbild, das hinter der orthodoxen Mysterienanschauung steht, entscheidend ist. Diese Lehre von der Theosis läßt sich im Bild veranschaulichen, wenn man ausgeht von der Interpretation der Schöpfungsgeschichte, wie sie von griechischen Kirchenvätern im Anschluß an Gen 1,26 ausgeführt wird. An dieser Bibelstelle heißt es:
„Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen gemäß unserem Bilde und Ähnlichkeit…“
Bei der Auslegung der beiden Begriffe „Bild“ (gr. eikon; lat. imago) und „Ähnlichkeit“ (gr. homoiosis; lat. similitudo) wird von manchen Vätern darauf hingewiesen, daß der zweite Begriff den Gedanken eines Entwicklungsprozesses wachruft, so daß man annehmen müsse, Gott habe Adam gleichsam als ein Kind in den Garten Eden gesetzt, da dieser nicht nur durch seine Vernunft, seinen aufrechten Gang und sein Vermögen zu herrschen Abbild des Schöpfers sei, sondern überdies die Bestimmung in sich trage, in stetem Umgang mit Gott der Teilnahme an der göttlichen Herrlichkeit als der Vollendung seines Menschseins entgegenzuwachsen. Nach dieser Anschauung und überhaupt der vorherrschenden Meinung der altkirchlichen Väter ist Adam vor dem Sündenfall noch nicht ein vollkommener, reifer Mensch, sondern vielmehr ein Menschenkind, das seine Zukunft noch vor sich hat und dazu bestimmt ist, durch stetes Wachsen in der Gottesnähe seine Vollkommenheit erst zu erlangen. Der Sündenfall hat nun nicht nur Adams Abbildlichkeit verwüstet und verletzt, sondern ihm vor allem auch die Gottesnähe entzogen und ihn auf sich selbst zurückgeworfen, was zur Folge hat, daß er von nun an aus sich selbst mit keiner Anstrengung mehr seine Bestimmung erfüllen und seine menschliche Vollkommenheit erlangen kann. In dieser heillosen Situation ist der Sohn Gottes Mensch geworden. Er, das vollkommene Ebenbild des Vaters, hat unsere Natur angenommen und wurde zum ersten vollkommenen Menschen und hat so durch Seinen Opfertod und Seine Auferstehung uns aus der Gottesferne erlöst und uns neu ermöglicht, was vorher außerhalb jeder Möglichkeit lag: daß wir die göttliche Herrlichkeit wiederum zu erlangen vermögen, die nach der ursprünglichen Bestimmung die menschliche Vollkommenheit ausmacht. So gilt jetzt:
„Christus in euch, Hoffnung auf Herrlichkeit!“ (Kol 1,27).
Diese Hoffnung aber kann nur da realisiert werden, wo wir „in Christus bleiben“ Jh 15,4-5). Das „Bleiben in Christus“ ermöglicht also die „Vergöttlichung des Menschen“, die „Theosis“, die die ursprüngliche Bestimmung Adams ist. Man darf sich allerdings bei dem Begriff „Vergöttlichung“ nicht zu falschen Assoziationen verleiten lassen: Nach orthodoxer Auffassung erhält der Mensch zwar Anteil an Gottes Herrlichkeit, nicht aber an Gottes Wesen, d. h. er wird zwar verwandelt in Gottes Licht und tritt in innige Gemeinschaft mit Gott, aber der unendliche qualitative Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf wird niemals aufgehoben: der dreieine Gott allein ist und bleibt Herr über alle Kreatur. Das ist der tiefgreifende Unterschied zur mittelalterlichen Mystik des Abendlandes, wo bei ihren wichtigsten Vertretern die unio mystica zur Aufhebung der Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf führt .
Für unseren Zusammenhang bedeutet das: Die mystische Erfahrung, wie sie auf dem Hintergrund der Lehre von der Theosis nach orthodoxer Auffassung jedem Gläubigen zugänglich ist, ist nichts anderes als das subjektive Innewerden des Hineinwachsens in die durch Christi Menschwerdung, Tod und Auferstehung erschlossene Gottesnähe.
Wie aber geschieht dieses Hineinwachsen in die Gottesnähe im konkreten Lebensvollzug? Die Antwort mag vielleicht manchen erstaunen: Nicht in einem Leben stiller Beschaulichkeit und Weltferne , sondern im steten Kampf wider die gottfeindlichen Mächte in uns und um uns herum.
Diesen Kampf bis zum Äußersten ernst zu nehmen, ist das besondere Anliegen des orthodoxen Mönchtums, das den Kampf mit den Dämonen aufnimmt . Denn in der orthodoxen Kirche weiß man sehr wohl um die Realität der dämonischen Mächte, die besonders dort aktiv werden, wo der Weg des Heils beschatten wird. Nicht ohne Grund heißt es in der Schrift:
„Ziehet die ganze Waffenrüstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlägen des Teufels standhalten könnt! Denn unser Ringkampf geht nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die Gewalten, wider die Mächte, wider die Herrscher dieser Welt der Finsternis, wider die Geister der Bosheit in den himmlischen Regionen“ (Eph 6,11-12).
„Seid nüchtern und wachet! Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen könne“ (l Petr 5,8).
Für die orthodoxen Gläubigen ist dieses Wissen kein bloßer Lehrsatz, sondern lebendige Erfahrung, die in ihrer Realität der mystischen Erfahrung um nichts nachsteht und gleichsam ihr Gegenpol darstellt. Daher wird auch jeder orthodoxe Christ von zwei gegensätzlichen Glaubenserfahrungen angegangen, die ihn nicht in Ruhe lassen: Einerseits erfährt er die göttliche Nähe und Fürsorge, die ihn auf dem Weg der Heiligung und Verwandlung weiterführt. Andererseits wird er angefochten von der Erfahrung des verderblichen Wirkens dämonischer Mächte, die ihn vom Weg der Heiligung wegzuführen versuchen. Darum ist, wo der Weg der Theosis beschritten wird, der Kampf mit den dämonischen Mächten unvermeidbar. Dies wird besonders anschaulich im orthodoxen Mönchtum. Was aber für das Mönchtum gilt, gilt in abgewandelter, weniger radikaler und zeichenhafter Form auch für jeden Weltchristen.
Fragt man nun, wie der Kampf, den der orthodoxe Christ auf dem Weg der Heiligung und Vollendung zu bestehen hat, erfolgreich geführt werden kann, dann wird man vor allem anderen die folgenden vier Punkte beachten müssen:
1. Die Übereignung des Heils ist ein liturgisch-sakramentales Mysterium, das Gott der Kirche anvertraut hat. Das bedeutet konkret: nicht die Widerstandskraft gegen das Böse und das moralische Bemühen eines Menschen sind die Voraussetzungen für sein geistliches Wachsen auf dem Weg der Heiligung, sondern seine Teilnahme an den Sakramenten und Gottesdiensten der Kirche: seine Taufe, seine Myronsalbung, das leibliche Anteilbekommen am Leib und Blut des Herrn, die Teilnahme am kirchlichen Gebet und besonders an der Göttlichen Liturgie, die Beteiligung am Fasten der Kirche, die regelmäßige Absolution der Sünden und die Erneuerung im Heiligen Geist durch die Beichte All dies ist nach orthodoxem Verständnis die Grundvoraussetzung für das „Bleiben in Christus“, das die Gläubigen auf dem Weg der Heiligung und Verherrlichung hält. Es kann also innerhalb der Orthodoxen Kirche kein Christsein geben, das ohne eine regelmäßige Teilnahme an den kirchlichen Mysterien auskommt .
2. Aber das liturgisch-sakramentale Geschehen wirkt nach orthodoxer Auffassung nicht magisch, d. h. durch den äußeren Vollzug ohne Hinsicht auf die innere Beteiligung. Denn Gott vergewaltigt den Menschen nicht, auch nicht zu dessen Heil. Er ermächtigt ihn vielmehr in freier Entscheidung einzustimmen in das erlösende Geschehen und Mitarbeiter, Mitkämpfer und Mitsieger zu werden an der Erlösung von Menschheit und Kosmos, denn nur so wird er zum vollkommenen Menschen, wozu ihn Gott bestimmt und wie ihn Christus als Erstling der neuen Schöpfung verwirklicht hat. Und zwar würdigt der Herr zu Mitarbeitern in diesem Sinne nicht bloß Apostel und Propheten, Bischöfe, Priester und Diakone, sondern jeden, der die Versiegelung durch den Heiligen Geist empfangen hat (Eph 1,13-14; 4,29-30), da ja jeder Christ berufen ist, in sich und seiner nächsten Umgebung den Widersacher Gottes zu besiegen (Phil 1,27-29) und damit nicht nur dem eigenen geistlichen Wachsen, sondern auch dem Wachsen des Reiches Gottes zu dienen. Daher hat niemand Grund zu der Meinung, es sei schon alles Erforderliche damit getan, daß er regelmäßig zur Kirche gehe. Man kann am Gottesdienst auch teilnehmen wie Judas am Herrenmahl, nämlich indem man, statt sich Gott zu öffnen und auszuliefern, den Satan in sich fahren läßt und weggeht, Christus zu verraten (Lk 22,3-6.21-23). Nicht selten fällt die Entscheidung für einen solchen Verrat unbewußt im Gottesdienst selbst, wo sich das Herz verhärtet, statt daß es verwandelt wird. Daher ermahnt der Hebräerbrief mit dem Psalmwort:
„Heute, wenn ihr Seine Stimme höret, verhärtet eure Herzen nicht…“ (Hebr 3,15; ps 94(95),8).
Denn immer ist der Gottesdienst der Ort, wo Buße und Neuanfang geschenkt wird dem, der ernstlich darum bittet. Es ist aber auch der Ort, wo Stärke und Ruhe für die rechten Entscheidungen und das gottgewollte Verhalten im täglichen Kampf zu holen ist. Daher sind es nicht moralische Appelle zu einem dem Glauben gemäßen Verhalten im Alltag, von denen man in der Orthodoxen Kirche die Erbauung der Gläubigen für das Bestehen im täglichen Kampf erwartet. Auf Moralpredigten kann die Orthodoxe Kirche ohne Verlust verzichten ; sie hat ihren Gläubigen besseres zu geben: Buße und Neuanfang in der Gnade Gottes durch das kirchliche Gebet und die Mysterien.
3. Das alles soll jedoch nicht die falsche Meinung erwecken, das geistliche Wachsen der Gläubigen sei auf die Zeit beschränkt, während der die Gläubigen im Gotteshaus weilen. Vielmehr: das, was im Gotteshaus seinen Anfang nimmt, muß im Alltag zur Reife gelangen, und dies geschieht nicht nur im tätigen Einsatz für Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Schönheit und Güte, sondern auch im Leiden und Sterben, wie auch Paulus seinen Gemeinden immer wieder vor Augen hält:
„Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überragende Größe der Kraft von Gott und nicht von uns sei. In allem werden wir betrübt, aber wir verzagen nicht, in die Enge getrieben, aber wir verzweifeln nicht, verfolgt, aber nicht verlassen, zu Boden geworfen, aber nicht vernichtet; allezeit tragen wir das Sterben Jesu an unserm Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserm Leib offenbar werde Denn immerfort werden wir lebend dem Tode überliefert um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleisch. Somit ist der Tod an uns wirksam, das Leben aber an euch“ (2 Kor 4,7-12).
„Denn euch wurde geschenkt, nicht nur an Christus zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden, indem ihr denselben Kampf erlebt, wie ihr ihn an mir gesehen habt und jetzt von mir hört“ (Phil 1,29-30).
4. Doch nicht jedes Leiden, nicht jeder tätige Einsatz für Gottes Sache führt schon von selbst zum Sieg über den Widersacher und zum Wachsen in der Fülle des Geistes. Manches Leiden und mancher wohlgemeinte Einsatz der Kräfte bringt auch Enttäuschung und Resignation, dann nämlich, wenn das Gebet dabei vernachlässigt wird. In diesem Zusammenhang wird die besondere Stellung, die im orthodoxen Glauben dem Gebet zukommt, deutlich. Nicht nur die Kirche als solche, auch der einzelne Gläubige weiß sich zum ununterbrochenen Gebet angehalten, da dieses das „Bleiben in Christus“ aktualisiert, göttliches Gebot ist und unter der Verheißung der Erhörung steht.
„Betet ohne Unterlaß! Danket in allem! Denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch“ (1 Th 5,17).
„Wenn ihr in Mir bleibt und Meine Worte in euch bleiben, so bittet, um was ihr wollt, und es wird euch zuteil werden“ Joh 15,7).
„Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan! Denn jeder, der bittet, empfängt; und wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird aufgetan werden. Oder welcher Mensch ist unter euch, der seinem Sohn, wenn er ihn um ein Brot bittet, einen Stein gäbe, oder auch, wenn er um einen Fisch bittet, ihm eine Schlange gäbe? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wißt, wieviel mehr wird euer Vater in den Himmeln denen Gutes geben, die Ihn bitten!“ (Mt 7,7-11).
„Er sagte ihnen aber ein Gleichnis, um ihnen zu zeigen, daß sie allezeit beten und nicht müde werden sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der Gott nicht fürchtete und sich vor keinem Menschen scheute. Und eine Witwe war in derselben Stadt, die kam zu ihm und sagte: ,Schaffe mir Recht gegenüber meinem Gegner!' Und er wollte eine Zeitlang nicht; doch hernach sagte er bei sich selbst: ,Wenn ich auch Gott nicht fürchte und mich vor keinem Menschen scheue, so will ich doch, weil mir diese Witwe Mühe macht, ihr Recht schaffen, damit sie nicht schließlich kommt und mir ins Gesicht schlägt.' Weiter sprach er: Höret, was der ungerechte Richter sagt! Gott aber sollte Seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu Ihm rufen, ihr Recht nicht schaffen und sollte ihnen gegenüber säumig sein? Ich sage euch: Er wird ihnen ihr Recht schaffen in Bälde. Wird jedoch der Sohn des Menschen, wenn Er kommt, auf Erden Glauben finden?“ (Lk 18,1-8).
Aufgrund solcher Mahnungs- und Verheißungsworte der Heiligen Schrift wird das Gebet im orthodoxen Glauben als das vornehmste Mittel im Kampf gegen den Widersacher Gottes gewertet, dergestalt, daß immer wieder betont wird, daß ohne das unablässige Gebet weder Mühen noch Leiden Aussicht auf bleibenden Erfolg haben. Denn nur allzu leicht werden Sinn und Ziel von Tun und Leiden unter der Hand vertauscht: was zur Ehre Gottes begonnen, endet im Selbstruhm. Daher muß das Gebet jederzeit Ausgangs- und Endpunkt allen Arbeitens und Leidens sein.
Diese orthodoxe Lehre von der Notwendigkeit und Kraft des immerwährenden Gebetes ist auch das Hauptthema der volkstümlichen „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“, die seit rund hundert Jahren in Rußland verbreitet sind und sich unter den orthodoxen Gläubigen auch bei uns im Westen bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Es lohnt sich, aus deren theoretischen Darlegungen im zweiten, weniger bekannten Teil der Schrift ein Stück hier herauszugreifen und zu zitieren, da darin das orthodoxe Gebetsverständnis in erbaulicher und doch knapper Form authentischen Ausdruck findet:
„Das Gebet ist so stark, so mächtig, daß du , beten und tun kannst, was du willst', und das Gebet wird dich zum rechten und wahrhaften Wirken hinführen. Um Gott wohlzugefallen, bedarf es nur der Liebe. ,Habe nur Liebe und tue, was du willst, sagt der heilige Augustinus - denn wer wahrhaft liebt, der kann es nicht einmal wollen, dem Geliebten etwas anzutun, was ihm nicht angenehm wäre. Da das Gebet Liebeserguß und Wirkung der Liebe ist, so kann man von ihm tatsächlich ähnliches sagen: Für die Errettung der Seele bedarf es nur des immerwährenden Gebets: Bete und tue, was du willst, und du wirst das Ziel des Gebetes erreichen; du wirst durch es geheiligt werden!
Um die Vorstellung von diesem Gegenstand deutlicher zu machen, greifen wir zu Beispielen:
1. Bete und denke alles, was du willst, und dein Denken wird durchs Gebet geläutert werden. Das Gebet wird deinen Geist erleuchten; es wird alle abwegigen Gedanken vertreiben und dich beruhigen. Der heilige Gregorios, der Sinaite, bestätigt dieses: ,Willst du Gedanken vertreiben und den Geist reinigen, so vertreibe sie durchs Gebet, denn außer durch das Gebet lassen sich die Gedanken nicht zügeln.` Auch der heilige Johannes Klimakos sagt desgleichen: ,Besiege durch Jesu Namen die geistigen Feinde. Du wirst keine andere Waffen finden als diese!'
2. Bete und tue, was du willst, und deine Werke werden Gott wohlgefällig sein, dir selber aber nützlich und heilbringend! Häufiges Beten, gleichviel worum es geht, bleibt nicht ohne Frucht, denn in ihm selbst ist eine heilbringende Kraft beschlossen. ,Heilig ist Sein Name, und jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet' (Apg 2,21). So wird beispielsweise einer, der ohne Erfolg in Sünden betet, durch dieses Gebet erleuchtet und zur Reue gerufen…
3. Bete und bemühe dich nicht, aus eigener Kraft deiner Leidenschaften Herr zu werden. Das Gebet wird sie in dir zunichte machen. ,Denn der in euch ist, ist größer als der in der Welt ist', sagt die Heilige Schrift (l Joh 4,4). Der heilige Johannes von Karpathos lehrt: ,Wenn du die Gabe der Enthaltsamkeit nicht hast, so trauere nicht darum; wisse aber, daß Gott von dir Eifer fürs Gebet fordert, und das Gebet wird dich erretten.' Auch ein Starez möge als Beispiel dienen, der ,fallend siegte', das heißt, er strauchelte, aber er verzweifelte nicht, sondern hielt sich ans Gebet und überwand die Versuchung.
4. Bete und fürchte nichts. Fürchte dich weder vor Unglück noch vor Unheil - das Gebet wird dir zur Abwehr dienen und alles abwenden. Denke an den kleingläubigen Petrus, da er am Ertrinken war (Mt 14,30-31), an Paulus, als er im Gefängnis betete (Apg 16,25), an den Mönch, der durch Gebet einer Versuchung widerstehen konnte; an die Jungfrau, die durch Gebet gerettet wurde, als sie von einem Kriegsknecht arg bedrängt wurde. Hierdurch wird die Kraft, die Macht, das Allumfassende des Gebets im Namen Jesu Christi bestätigt.
5. Bete nur irgendwie, aber immer, und laß dich nicht verwirren! Sei fröhlich im Geiste und ruhig: Das Gebet wird alles machen und dich unterweisen. Denke daran, was Johannes Chrysostomus und Markus der Eremit vom Gebet sagen: ,Wenn wir, die Sündigen und von Sünden Behafteten, unser Gebet darbringen, so werden wir durch dasselbe alsbald gereinigt.' Des anderen Wort lautet: .Irgendwie zu beten, liegt in unserer Macht; aber rein zu beten ist ein Geschenk der Gnade Also, was in deiner Macht ist, das bringe Gott dar; bringe wenigstens die dir mögliche Anzahl (der Gebete) dar - ihm als Opfer, und Gottes Kraft wird sich in deine Ohnmacht ergießen; auch ein trockenes und zerstreutes, aber häufiges, immerwährendes Gebet wird, wenn es dir erst zur zweiten Natur geworden ist, zu einem reinen, lichten, flammenden und rechten Gebet werden . . .“ .
Die lapidare und volkstümliche Form dieser Gebetsanweisungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier ein Weg der Heiligung durchs Gebet gelehrt wird, der in mancher Hinsicht für das orthodoxe Gebetsverständnis charakteristisch ist. Im besonderen fallen auf: die Vorrangstellung, die dem Beten vor allem anderen menschlichen Tun und Lassen gegeben wird, und das nachdrückliche Wertlegen auf das Verharren im Gebet. Was diesen letzten Punkt betrifft, so ist säkularisiertes Denken leicht geneigt, hier magische Vorstellungen im Spiel zu vermuten. Zu Unrecht! Mit Magie hat dies nichts zu tun, wohl aber mit einem realistischen Wissen um die menschlichen Schwächen und Grenzen und mit einem festen Vertrauen auf die göttliche Verheißung der Gebetserhörung und der Gebetshilfe durch den Heiligen Geist:
„...Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebühret; aber der Geist Selbst tritt für uns ein mit unausprechlichen Seufzern. Der jedoch, der die Herzen erforscht, weiß, was das Trachten des Geistes ist; denn Er tritt für die Heiligen ein, wie es Gott gefällt“ (Rm 8,26-27).
„Weil ihr aber Söhne seid, hat Gott den Geist Seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: ,Abba, Vater!'„ (Gal 4,6).
Bereits in altchristlicher Zeit hat man die Gebetshilfe des Heiligen Geistes auch so verstanden, daß Er das häufige Gebet des kraftlosen Sünders in das immerwährende Herzensgebet verwandelt, das den von Gott damit Begnadeten Tag und Nacht begleitet, wie eine Melodie, die ihn nicht mehr losläßt, und sich so mit Herzschlag und Atem verbindet, daß es durch keine Tätigkeit, auch nicht durch den Schlaf, mehr unterbrochen wird. Der Inhalt dieses immerwährenden Herzensgebetes ist meist eine kurze, einfache Formel, früher häufig nur das schlichte „Kyrie eleison“, seit Diadochos von Photike (5. Jh.) und Johannes Klimakos (7. Jh.) jedoch meist eine Anrufung des Namens Jesu, weshalb es auch „Namen-Jesu-Gebet“ oder kurz „Jesus-Gebet“ genannt wird. Die heute allgemein übliche Formel lautet:
„Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner, des Sünders!“
Dabei bleibt der erste Teil dieser Formel stets unverändert - wenn er auch je nach den rhythmischen Gegebenheiten einer Sprache unter Umständen in einer kürzeren Fassung erscheint -, während der zweite Teil der Formel nicht selten variabel ist. Dieser ist jedenfalls aber eine der eigenen Unwürdigkeit bewußte Bitte um die gnädige Gegenwart Gottes, wobei das
„erbarme Dich meiner (unser, aller)!“
die allgemeinste Formulierung dieses Anliegens, aber auch die völlige Hingabe an Gott zum Ausdruck bringt. Der erste Teil der Formel dagegen ist eine Akklamation des Namens Jesu Christi, mit der der Beter einstimmt in die Doxologie des frühchristlichen Hymnus, den der Apostel Paulus im Philipperbrief zitiert:
„Darum hat Ihn (sc. Christus Jesus) auch Gott über die Maßen erhöht und Ihm den Namen geschenkt, der über jedem Namen ist, damit in dem Namen Jesu sich beuge jedes Knie derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne: Herr ist Jesus Christus in der Herrlichkeit Gottes, des Vaters“ (Phil 2,9-11).
Daß die Akklamation des Namens des Herrn mit dem Einatmen sich verbindet, die Hingabe und Bitte dagegen mit dem Ausatmen hat eine tiefe Bedeutung, die sich auch ohne Erklärungen dem, der dieses Gebet übt, leicht erschließt. Was die Technik des Jesus-Gebetes betrifft, so hat das hesychastische Mönchtum dafür Methoden entwickelt, die dem Yoga oder dem autogenen Training verwandt erscheinen und unverkennbar entfernte buddhistische und islamische Einflüsse aufweisen. Aber man darf nicht übersehen, daß auch für die Hesychasten die Gebetstechnik nicht das Ausschlaggebende, sondern nur ein mehr oder weniger erprobtes Hilfsmittel darstellt, das nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß das rechte, reine Gebet nicht durch Techniken erreichbar, sondern immer ein Gnadengeschenk des Heiligen Geistes ist. Das bedeutet konkret: Nicht die Beobachtung der Atemtechnik, sondern die Hingabe an Gott ist das Entscheidende; man mühe sich nur um die Häufigkeit und Ernsthaftigkeit des Gebetes; wem Gott dann die Gnade des immerwährenden Herzensgebetes schenkt, der wird von selbst den Einklang des Betens mit dem Atem und der Herztätigkeit finden . Wenn dies als Voraussetzung klar ist, ist es durchaus empfehlenswert, die Zeugnisse der Mönchsväter zum Gebet zu lesen, die in der „Philokalie“ gesammelt sind . Nicht nur in den Klöstern, sondern auch von vielen orthodoxen Laien werden in den Großen Fasten regelmäßig bestimmte Schriften dieser Sammlung vorgenommen und meditiert. Auf einen Sachverhalt gilt es allerdings zu achten, der in diesen Schriften nicht immer am Tage liegt und beispielsweise in den bereits erwähnten „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“ deutlich zu kurz kommt: Das Jesus-Gebet stellt nicht die einzige, nicht die gebräuchlichste, nicht einmal die charakteristischste Art des persönlichen Gebetes der orthodoxen Gläubigen dar. Es ist vielmehr gleichsam das letzte Glied einer Kette, die den Gläubigen mit dem Gebet der Kirche verbindet. Oder mit einem anderen Bild gesagt: Es ist das Zweiglein am Baum, an dem die Blätter und Früchte wachsen, das aber Halt und Lebenssaft durch die Äste aus Stamm und Wurzeln bezieht. Die hesychastische Gebetspraxis steht zu diesem Sachverhalt nicht grundsätzlich im Widerspruch.
„Die orthodoxen Hesychasten faßten das ,Namen-Jesus-Gebet' nicht als ein subjektives und emotionales Mittel zur Vereinigung mit Christus auf, sondern als eine Weise, die in den Sakramenten empfangenen Gnadengaben fruchtbar zu machen“ ,
schreibt der orthodoxe Theologe Johannes Meyendorff. Das wird einsichtig, wenn man bedenkt, daß ja auch die Hesychasten wie alle Mönche der orthodoxen Kirche regelmäßig die Hören gebetet haben. Im Gebet der Kleinen Hören verbindet sich kirchliches mit privatem Beten; oft werden diese Gebetszeiten ja nicht in der Gemeinschaft gehalten und es ergibt sich so ein Modellfall, wie kirchliches Gebet in stilles privates Gebet übergeht und wie dieselben Worte im öffentlichen Gottesdienst und im privaten Gebet des einzelnen Gläubigen zu gebrauchen sind. Hier wird etwas davon sichtbar, daß für den orthodoxen Christen persönliches Gebet zu allererst Mit- und Nachvollzug des Gebetes der Kirche ist. Sie ist ja der Stamm des Baumes, an dem er als Zweiglein Blätter und Früchte tragen soll. In bezug auf das Gebet bedeutet das: Orthodoxes Beten hat zunächst nichts zu tun mit einem freien Stegreifmonolog, in dem der Gläubige Gott sein Herz ausschüttet. Zu einem ,Gott sein Herz ausschütten' kann zwar der orthodoxe Christ auch kommen, aber er wird es bestenfalls als Frucht des Gebetes, nicht als Gebet selbst verstehen. Denn das Gebet ist für ihn primär ein Dienst, den er nur recht erfüllen kann, wenn er sich von der Kirche an die Hand nehmen läßt, um von ihr das Beten zu lernen in einem zunächst nur bruchstückhaften Hören Verstehen und Nachsprechen. Das erfordert ein nicht geringes Stück Demut; er darf sich nicht verdrießen lassen, daß er zunächst nur Brocken erfaßt. Er wird doch satt, denn es sind Brocken vom Brot, das der Herr selbst gesegnet hat: von Seinem Wort. Orthodoxes Beten heißt: Gottes Wort in den Mund nehmen und kauen, bis es von selbst die Kehle hinabgleitet. Das Besondere an den orthodoxen Gebeten, Troparien und anderen kirchlichen Gebrauchstexten ist ja, daß sie in vielfacher Weise das Wort Gottes aktualisieren für den Tag und die Stunde, die Fest- oder Bußzeit. Das persönliche Gebet des Gläubigen besteht also darin, daß er das ihm von der Kirche lebendig vermittelte Wort aufnimmt und nachspricht. Daher werden die Hören nicht nur in der Gemeinschaft und nicht allein von Mönchen gebetet, sondern, soweit dies zeitlich immer möglich ist, auch von den Laien in ihren Privatgebeten. Seit ältester Zeit ist den Laien mindestens ein dreimal tägliches Gebet aufgetragen, dazu kam in alter Zeit mancherorts noch das Mitternachtsgebet . Der Inhalt dieser regelmäßigen Gebetszeiten der Laien ist nie offiziell festgelegt worden. Einzelne Zeugnisse zeigen aber, daß er immer ein Auszug aus den offiziellen kirchlichen Texten darstellte Heute gibt es in griechischen Büchern Formulare für das Gebet nach dem Aufstehen am Morgen und für das private Abendgebet . Auch sie bestehen im wesentlichen aus Stücken, die den Hören entnommen sind. Im siebenten Teil dieses Buches bringen wir ein Formular für das dreimaltägliche Gebet, das den Hören entnommene Stücke enthält, zudem aber dem Umstand Rechnung trägt, daß heute die meisten Berufstätigen nicht mehr als einmal am Tag ihre Gebetszeit so halten können, daß sie dazu Bücher zur Hand haben und Eigentexte und Lesungen an den dafür vorgesehenen Stellen einschieben können. Dies aber scheint uns für das geistliche Wachsen der Gläubigen heute wichtiger als je Denn es ist in unseren Zeiten den Gläubigen viel schwerer geworden durch eine unmittelbare Beteiligung am kirchlichen Leben im Kirchenjahr innerlich mitzugehen, zumal in unseren Gegenden, wo öffentliche Gottesdienste oft nicht einmal an allen Sonntagen stattfinden, geschweige denn an den vielen größeren und kleineren Festen, die auf Wochentage fallen. Wenn der orthodoxe Gläubige unter diesen erschwerenden Umständen mit der Kirche mitbeten und unter ihrer Führung geistlich wachsen will, ist es unerläßlich, daß er regelmäßig die biblischen Lesungen und wichtigsten Troparien zum Tage liest; daher unser Vorschlag, bei einem der drei relativ kurzen, in der Struktur analogen Formulare des Morgen-, Mittags- und Abendgebetes einen Einschub zu machen mit den Lesungen, Wechseltexten und Fürbitten. Dies ist nur ein Vorschlag; selbstverständlich kann man ebenso gut anstelle dieser von uns zusammengestellten Formulare abwechslungsweise eine ausgewählte Hore mit allen Eigentexten und der Hinzufügung der Tageslesungen beten. Für den Anfänger aber dürften unsere vereinfachenden Formulare geeigneter und befriedigender sein. Wichtig ist aber letztlich eines: daß der orthodoxe Gläubige in sein Tageszeiten-Gebet auch das Wort Gottes zum jeweiligen Tag aufnimmt und mitbetet, sonst beginnt er bald gleichsam an Vitaminmangel zu leiden.
In diesem Zusammenhang muß aber noch auf eine Gefahr aufmerksam gemacht werden. Man könnte sie die Gefahr des „Ritualismus“ oder „Formalismus“ nennen. Wer etwas Erfahrung hat, kann leicht an sich selbst und anderen beobachten, daß es eine für Orthodoxe typische Weise gibt, sich durch peinliche Beachtung formaler Regeln der Ernsthaftigkeit des Gebetes zu entziehen und den Inhalt durch das Bemühen um formale Korrektheit gleichsam auszublenden. Das ist letztlich nichts anderes, als eine äußerst raffinierte Weise, Gott und Seinem Wort auszuweichen; wo man sie an sich beobachtet, da ist es Zeit zur Buße, damit man wieder lernt, Gott auszuhalten.
Mit dem Stichwort „Buße“ ist nun aber ein weiteres wesentliches Moment genannt, das für das geistliche Wachsen der Gläubigen unerläßlich ist. Die Kirche läßt, wie wir gesehen haben, außer den wöchentlichen Fasttagen Mittwoch und Freitag, den größeren Festen des Kirchenjahres eine Fastenzeit vorangehen, in der die Gläubigen eingeladen werden, ihr Leben zu überprüfen und wie der verlorene Sohn zum Vater umzukehren und das Festmahl im Vaterhaus zu feiern. Die Fastenregeln, die die Kirche für diese Zeiten festgelegt hat, haben nun allerdings andere klimatische Verhältnisse und Lebensgewohnheiten zur Voraussetzung, als bei uns herrschen; von daher gesehen, ist es durchaus berechtigt, sie in der Praxis den situationsbedingten Gegebenheiten anzupassen. So ist es beispielsweise für unsere Verhältnisse nicht ratsam, sich in den Großen Fasten aller Milchprodukte (Laktizinien) zu enthalten. Wenn an deren Stelle auf Zucker und Süßwaren verzichtet wird, ist das durchaus sachgemäß. Im übrigen gilt es auch hier zu bedenken, daß die Ernsthaftigkeit des Fastens nicht am formalen Einhalten der Fastenregeln hängt und daß man sich unter der formalen Beachtung der Fastengebote durchaus um das Fasten herumdrücken und, wenn man die Mittel und den Zeitaufwand nicht zu scheuen braucht, mit köstlichen Fastenspeisen gut leben kann. Die Ernsthaftigkeit des Fastens hängt vielmehr daran, daß man die Zeit als Bußzeit nützt. Das ist nun allerdings auch nicht als Freibrief mißzuverstehen, sich über alle kirchlichen Gebote souverän hinwegzusetzen. Denn es gibt kein geistliches ohne leibliches Fasten, und dazu gehört ein Dreifaches:
1. Es gehört dazu ein empfindlicher Verzicht auf Dinge, von denen wir abhängig geworden sind und die uns die Wahrheit des Wortes verstellen:
„Nicht vom Brot allein wird der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht“ (Mt 4,4; Dt 8,3).
Man sollte daher die Zeit der Großen Fasten nicht vorübergehen lassen, ohne wenigstens in einem Punkt einen wesentlichen Verzicht zu leisten. Es ist aber dringend zu raten, diesen Verzicht mit dem Beichtvater abzusprechen, denn beides ist schädlich: sich zuviel und sich zuwenig vorzunehmen. Zudem gehört zur rechten Buße die Demut, auf das Selbstkurieren seiner Fehler zu verzichten und sich den von der Kirche verordneten Heilmitteln unterzuordnen. Gewiß gibt es auch immer wieder Fälle, wo die Liebe zu Gott gebietet, auszubrechen aus dem gesetzten Maß. Die Lebensgeschichten vieler Heiligen geben dafür Beispiele Aber man täusche sich nicht: allzuoft steht der Hochmut statt die Liebe Pate bei diesem Versuch, der dann auch nicht selten zum Scheitern verurteilt ist und anstelle von geistlichem Wachstum Entmutigung und Resignation bringt. Hochmut und Überheblichkeit sind ja wohl die Hauptsünden orthodoxer Christen, nicht nur der Mönche, sondern auch der besonders engagierten Weltchristen. Die Fastenzeit ist die Gelegenheit, auch in dieser Hinsicht Buße zu tun.
2. Zum Fasten gehört die Intensivierung des Gebetes. Denn der äußere Verzicht ist nur heilsam, wenn daraus ein geistlicher Gewinn gezogen wird. Wo das Fasten nicht ins Beten einmündet, da bleibt es gleichsam unfruchtbar. Aber auch in dieser Beziehung ist es gut, die Art der Intensivierung des Gebetes mit dem Beichtvater zu vereinbaren. Dies ist eine Gelegenheit, sich über das eigene Gebetsleben Rechenschaft zu geben. Vielleicht ist es hilfreich, in diesem Zusammenhang eine Anregung von Vater Alexander Schmemann aufzunehmen und weiterzugeben. Er rät, schon in der Vorfastenzeit sich ein Programm für die Fastenzeit zu machen . Dieses Programm sollte aber nicht nur in einem Katalog von Verzichten bestehen, sondern auch positive Punkte enthalten. In Klöstern ist es seit ältester Zeit üblich, daß jeder Mönch vor der Fastenzeit aus der Bibliothek ein erbauliches Buch entleiht, um es während der Fasten zu lesen. Unsere Gemeinden täten gut daran, jeweils vor den Großen Fasten in ihren Bulletins eine Liste empfehlenswerter Bücher zur Lektüre in der Fastenzeit zu veröffentlichen, damit die Leere, die der abgestellte Fernsehapparat in den Häusern verursacht, sinnvoll ausgefüllt werden kann. Was die Intensivierung des Gebetes betrifft, so ist im besonderen an das Gebet des heiligen Ephraim (s. unten S. 251 f.) zu erinnern, das, wenn es der Gläubige für sich betet, auch erweitert werden kann, z. B. im ersten und zweiten Teil um die Aufzählung weiterer Laster bzw. geistlicher Gaben, die dem Beter besonders wichtig sind, im dritten Teil um ein Sündenbekenntnis.
3. Zum Fasten gehört schließlich auch, daß man das, was man sich vom Munde abgespart hat, anderen, die Not leiden, zugute kommen läßt.
Die Fastenzeit ist in der Orthodoxen Kirche immer eine Zeit gewesen, in der die Gläubigen vermehrt zur Beichte und Kommunion gegangen sind. Denn es besteht im Osten wie im Westen die alte Regel, zum Osterfest zu beichten und zu kommunizieren. Was die Beichte betrifft, so ist aber für ein kontinuierliches geistliches Wachstum der Gläubigen nach unserer Meinung eine einmalige Beichte im Jahr zu wenig. In unseren franco- und germanophonen Gemeinden ist es üblich, daß die Gläubigen alle Monate ein bis zwei Mal zur Beichte gehen. Dabei ist es nicht Brauch, die Sünden „nach Zahl und Art“ (secundum numerum et speciem) dem Beichtvater zu erzählen, wie dies aufgrund der iroschottischen Bußpraxis sich seit dem Mittelalter in der westlichen Kirche eingebürgert hat und dort als erforderlich gilt, weil der Priester ein Urteil über die Schwere der Sünden und die Größe der Buße zu fällen hat. Diese Funktion kommt dem orthodoxen Priester in der Beichte nicht zu: er hat nicht an Gottes Stelle zu urteilen, sondern kraft seines Amtes den Auftrag der Kirche wahrzunehmen, den schwachen Gliedern beizustehen (l Kor 12,25 f.), und, außer in Fällen einer sichtbaren Unbußfertigkeit, die apostolische Schlüsselgewalt so anzuwenden, daß er die Absolution in deprekativer (epikletischer) Form erteilt, d. h. indem er über dem Sünder für diesen Gott um Vergebung der Sünden, Versöhnung, Wiedervereinigung des Sünders mit dem Leib Christi und Erneuerung durch den Heiligen Geist anruft. Wenn in gewissen russischen Gemeinden von den Priestern anstelle der deprekativen Absolutionsformel eine indikativische Form im Ich-Stil gebraucht wird, so ist dies auf westlichen Einfluß zurückzuführen und widerspricht dem orthodoxen Geist der Beichte, was aber letztlich das orthodoxe Beichtverständnis als solches auch da nicht weiter beeinflußt hat. Im übrigen werden in der Orthodoxen wie auch in der Römisch-Katholischen Kirche die Gläubigen dazu angehalten, in der Beichte nichts zu sagen, was einen anderen belastet, und insbesondere keine Namen von Mitschuldigen zu nennen, da es der wahren Buße nicht förderlich ist, wenn man von sich auf andere ablenkt und dies zudem mannigfache Gefahren mit sich bringt. Es genügt durchaus, wenn man seine mangelnde Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst in Reue bekennt und dort präzisiert, wo man erwartet, daß das Beichtgespräch konkrete Hilfe zum Überwinden einer Schwäche bringen kann. Was schließlich die Kommunion der erwachsenen Gläubigen betrifft, so gehen in unseren westlichen Diasporagemeinden slawischer Herkunft viele Gemeindeglieder möglichst immer, wenn sie in ihrer Gemeinde an einer Liturgiefeier teilnehmen auch zur Kommunion. Diese Praxis ist nicht ganz neu. Sie wurde auch in früheren Jahrhunderten vor allem von Mönchen empfohlen. Aber vielfach gehen in östlichen Gemeinden die Gläubigen nicht so oft zur Kommunion, weil sie die dort praktizierte Weise des Fastens abhält, obwohl auch da gewisse Erneuerungsbewegungen auf eine häufigere Kommunion drängen . Die Praxis der allsonntäglichen Kommunion birgt auch Gefahren in sich: nämlich einerseits die Gefahr, daß die Kommunion zum selbstverständlichen Abschluß einer Liturgiefeier entwertet und das Mysterium des Leibes und Blutes Christi nicht mehr in der ganzen Größe erfaßt wird, andererseits die Gefahr, daß die Gläubigen nicht mehr lernen, eine Liturgie voll mitzubeten, bei der sie nicht kommunizieren und daß das Moment der geistlichen Kommunion verloren geht. Von daher gesehen, könnte es ratsamer erscheinen, nur alle vierzehn Tage zur Kommunion zu gehen. Aber auf der anderen Seite ist die Kommunion für das Wachsen der Gläubigen in der Heiligung von nicht überschätzbarer Wichtigkeit. Und es fragt sich, ist es zu verantworten, die Einladung des Herrn grundlos auszuschlagen und Hunger zu leiden, wo man satt werden (vgl. Joh 6,27.54) und Kraft holen könnte für die Bewältigung des Glaubenskampfes? Die Entscheidung in dieser Konfliktsituation muß jeder Gläubige selbst fällen. Aber, wie immer er sich entscheidet, über eines darf er sich nicht hinwegtäuschen: Auch die Kommunion wirkt nicht automatisch. Wenn er sich nicht die Zeit vorher und nachher nehmen kann, Einkehr zu halten zur Buße und wenigstens die Kommunionsgebete zu lesen, wenn er ferner nicht den festen Willen mitbringt, die in der Kommunion empfangenen Gnadengaben durch eine Intensivierung .des Gebetes fruchtbar zu machen, wird ihm die Kommunion wenig nützen, im Gegenteil, sie wird sein Herz verhärten, wie sie das Herz des Judas verhärtet hat. Denn es gibt in bezug auf die Teilnahme am Leib und Blut Christi nur eines von beiden: Wachsen im Geist, was nicht ohne eigenes Mühen vor sich geht, oder eine Verstockung des Herzens, die von Gott wegführt. Deshalb ist die Kommunion ein zweischneidiges Schwert, das nicht leichtfertig gebraucht werden darf. Sie ist aber auch unsere große Chance, immer wieder neu anfangen und aus unseren festgefahrenen Geleisen, schlechten Gewohnheiten und der lieblosen Selbstsucht herausfinden zu können, um in einem stetigen Wachsen unsere Bestimmung zur Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes und der Erlösung der Welt zu erlangen. Darum werden wir auch immer wieder das Wagnis eingehen und zur Kommunion herantreten, eingedenk der Worte, die wir in einem der Vorbereitungsgebete sprechen:
„Ich weiß, o Herr, daß ich unwürdig an Deinem allheiligen Leib und Deinem kostbaren Blut teilnehme, daß ich schuldig bin und mir zum Gericht esse und trinke, da ich nicht unterscheide den Leib und das Blut meines Gottes Christus (von profaner Speise). Voll Vertrauen aber nahe ich mich Dir, der Du gesagt hast: ,Wer Mein Fleisch isset und trinket Mein Blut, der bleibt in Mir und Ich in ihm!' Erbarme Dich meiner, Herr, und laß mich, Sünder, nicht zu Schanden werden, sondern handle an mir nach Deiner Barmherzigkeit! . . .“
Ein Problem stellt sich nun aber gerade dort mit nachdrücklicher Deutlichkeit, wo, wie in unserer westlichen Orthodoxie, die häufige Kommunion der Gläubigen befürwortet wird. Es ist die Frage, wie auch die Gläubigen, die nicht kommunizieren, an der Liturgiefeier vollen Anteil nehmen können. Diese Frage wird leider von der kirchlichen Hierarchie so gut wie gar nicht gesehen, da sie selbst ja nur selten - vielleicht allzu selten - in der Lage ist, am eigenen Leibe zu erfahren, wie schwer es ist, die Liturgie voll mitzufeiern, wenn man nicht auf die Kommunion als den Höhepunkt der persönlichen Beteiligung zuschreitet. Bedenkt man aber, daß doch in den meisten Fällen außer den Zelebranten nur der kleinere Teil der Gläubigen kommuniziert, so kann man ermessen, welchen pastoralen Mangel es darstellt, daß dieser wichtigen Frage nicht genügend Beachtung geschenkt wird. Wir können hier im folgenden das Thema nur gerade mit einigen Gedanken und Vorschlägen anreißen.
Zunächst gilt es, klar zu erkennen, daß eine Liturgiefeier, in der der Gläubige die Kommunion nicht erhält, für diesen eine andere Qualität und einen anderen Höhepunkt hat als eine Liturgie, in der er kommuniziert. Was die Qualität betrifft, so tritt, wo die Kommunion nicht genommen wird, der Charakter der Buße und der eschatologischen Sehnsucht stärker hervor. Dies wird auch durch das Moment der geistlichen Kommunion nicht grundsätzlich anders. Was aber den Höhepunkt der Feier betrifft, so liegt er für die Kommunizierenden zweifellos in der Kommunion, für die jedoch, die nicht zur Kommunion herantreten, liegt er in der Epiklese, wo der Zelebrant nach dem Wortlaut der Chrysostomusliturgie betet:
„Sende herab Deinen Heiligen Geist auf uns und diese Gaben hier.“
Und im Wortlaut der Basiliusliturgie heißt es:
„…der Heilige Geist komme nach dem Wohlgefallen feiner Güte auf uns und diese Gaben hier…“
In der Epiklese der Jakobusliturgie heißt es schließlich:
„Erbarme Dich unser, o Gott, nach Deiner großen Barmherzigkeit, und sende auf uns und auf die vorliegenden Gaben Deinen allheiligen Geist herab.“
Dies bedeutet: Nach allen gebräuchlichen Formularen des Eucharistischen Hochgebetes erhalten die feiernden Gläubigen, auch wenn sie nicht an der Kommunion teilnehmen, durch die Epiklese realen Anteil an den Gaben des Heiligen Geistes. Dieser Sachverhalt besteht unabhängig davon, ob sie zur geistlichen Kommunion ohne äußeres Essen und Trinken fähig sind. Die geistliche Kommunion ist zwar in der Tat nicht an die leibliche Speisung gebunden, wird aber wohl nur relativ selten ohne sie erreicht. Sie kann dort erfahren werden, wo das Verlangen zu kommunizieren so sehr ins Gebet führt, daß der Herr Selbst über alles Verstehen die Gemeinschaft schafft, die dem Gläubigen äußerlich versagt bleibt. Für die meisten Gläubigen jedoch ist das leibliche Essen und Trinken die Voraussetzung für die geistliche Kommunion. Was nun in der leiblichen und geistlichen Kommunion unmittelbar erfahren wird, ist nichts anderes, als was in der Epiklese jedem die Liturgie im Glauben mitvollziehenden Glied der Kirche verheißen ist: die Herabkunft und das Eingehen der ungeschaffenen Gnade in sein Herz, so daß er mit Paulus sagen kann:
„…ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Was ich aber jetzt im Fleische lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und Sich für mich dahingegeben hat“ (Gal 2,20).
Diese Heilswirklichkeit wird aktualisiert in der Epiklese und erfahren in der leiblichen und geistlichen Kommunion, wobei Aktualisierung und Erfahrung für die Gläubigen sich als reines Geschenk und Wunder Gottes im Heiligen Geiste darstellen. Wer aber dieses Wunder an sich wahrnimmt, der wird von einer Sehnsucht ergriffen, die ins Gebet treibt und einzig da gestillt werden kann. Das Beten während der Austeilung der Kommunion ist daher für die Glaubenserfahrung so notwendig, wie das Schlucken beim Essen und Trinken. Während jedoch für diejenigen, die zur Kommunion herantreten, es nicht allzu schwierig ist, dies unter Gebet zu tun, entsteht für die Gläubigen, die nicht kommunizieren, vielfach eine lange und unruhige Pause, in der sie leicht abgelenkt werden durch das äußere Geschehen und offenbar oft auch einfach nicht wissen, was sie in dieser Zeit beten sollen. Wo diese Verlegenheit besteht, empfiehlt sich die Praxis, nachdem die heiligen Gaben herausgetragen und mit einer Metanie begrüßt worden sind, still die folgenden Texte zu beten :
„Gedenke unser, Herr, wenn Du kommst in Deinem Reich!
Gedenke unser, Gebieter, wenn Du kommst in Deinem Reich!
Gedenke unser, o Heiliger, wenn Du kommst in Deinem Reich!“
Daran anschließend in steter Wiederholung bis zum Ende der Austeilung:
„Vom Throne der Herrlichkeit Deines Reiches komme, uns zu heiligen. Du thronest oben mit dem Vater, und hier bist Du unsichtbar in unserer Mitte. Gib mit Deiner mächtigen Hand in Gnaden auch mir Anteil an Deinem allreinen Leib und Deinem kostbaren Blut“ .
Anstelle dieses Textes kann natürlich auch der Wortlaut des Herzensgebetes in vertiefter Aufmerksamkeit gesprochen werden oder aber, es kann dieser Text nach kurzer Wiederholung ins Herzensgebet einmünden. So oder anders, wichtig ist allein, daß die Gläubigen es nicht versäumen, der gnädigen Gegenwart des Herrn sich im Gebet hinzugeben. Denn das Gebet ist es, mit dem wir dem Kommen Christi zu uns entsprechen durch unser „Bleiben in Ihm“, jenem „Bleiben in Christus“ das dem geistlichen Wachsen in Glauben und Liebe (vgl. Eph 4,23) Raum gewährt, damit wir erneuert werden in unserem inneren Wesen und anziehen
„den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhafter Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24) und so immer voller an der Herrlichkeit Gottes Anteil erhalten.
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Vladimir Lossky, Essai sur la theologie Mystique de l'Eglise d'Orient, Paris (Ed. Montaigne) 1944, p. 6 f.
Das gilt auch für das Mönchtum. Denn dieses ist nach orthodoxer Sicht nicht eine Flucht aus der Welt in eine stille Beschaulichkeit, vielmehr lösen sich die Mönche aus ihren weltlichen Bindungen, um in der Distanz zur Welt einen Gebetskampf aufnehmen zu können, der auch die Heiligung des Kosmos im Blick hat.
Vgl z. B. die Vita des hl. Antonius von Athanasius, MPG 26, 835-976; deutsch bei H. Mertel, BKV2 31, Kempten 1917.
Die Orthodoxe Kirche kennt zwar kein Gebot, wonach die Gläubigen jeden Sonntag zur Liturgie zu gehen verpflichtet wären. Aber jeder Gläubige weiß, daß er innerlich nicht wachsen und reifen kann ohne eine regelmäßige Teilnahme an den kirchlichen Fasten und Feiern und an den durch die Kirche vermittelten Mysterien.
Die Predigt wird, wo eine solche stattfindet, als Homilie im strengen Sinne des Wortes gehalten. Aufs Ganze gesehen besteht aber kein Zweifel, daß der Predigt im Orthodoxen Gottesdienst nicht die gleiche Bedeutung zukommt wie etwa in Protestantischen Gottesdiensten, wo sie als die Verkündigung des Wortes Gottes das ganze gottesdienstliche Geschehen dominiert. Diese Differenz hat vor allem anderen zwei Hauptursachen: Erstens werden in den orthodoxen Diensten nicht die Predigt, sondern die Verlesung des Evangeliums und der Vortrag von Apostel, Psalmen aber auch Stichen, Stichiren, Hymnen und Gebeten als primäre Verkündigung des Wortes Gottes verstanden, wobei die Predigt höchstens die Funktion einer subjektiven Verstehenshilfe oder einer Ermutigung zum Beten und Glauben hat. Damit hängt zweitens zusammen, daß das Wort Gottes nach orthodoxem Verständnis nicht in erster Linie intellektuell aufgenommen wird, sondern vielmehr durch Selbsthingabe im Mitbeten vorgeformter biblischer und kirchlicher Texte. Denn wie man Brot nicht in sich aufnimmt, indem man es anschaut, sondern indem man es kaut und schluckt, so kann man das Wort Gottes nicht aufnehmen, indem man es bloß rational zur Kenntnis nimmt, sondern indem man es mitbetet.
Emmanuel Jungclaussen (Hrsg.), Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Erste vollständige deutsche Ausgabe, Freiburg - Basel - Wien (Herder) 1974, S. 209-211.
Der Name „Hesychasten“ kommt von „hesychia“ (= Ruhe) und ist die Bezeichnung für die Väter einer führenden Bewegung im orthodoxen Mönchtum, die das Herzensgebet pflegt und dabei die Schau des ungeschaffenen göttlichen Lichtes lehrt. Im 14. Jahrhundert wurde sie angefeindet durch byzantinische Humanisten am Kaiserhof und der Ketzerei verdächtigt. Ihr großer Verteidiger wurde Gregorios Palamas, Bischof von Thessaloniki (gest. 1359), der dem Hesychasmus 1351 in der Orthodoxie kirchliche Anerkennung verschaffte.
Im übrigen wird von denen, die diese Techniken gebrauchen, immerwieder darauf hingewiesen, daß man sich nur unter kundiger Leitung eines geistlichen Vaters darauf einlassen sollte, Atem und Herzschlag kontrollieren zu wollen. Die Häufigkeit des Gebetes ist auch ohne diese Techniken möglich.
Deutsch nur im Auszug hrsg. von Martin Dietz, Die kleine Philokalie, eingel. v. J. Smolitsch, Einsiedeln 1956.
Vgl. Bernard Botte, La Tradition Apostolique de Saint Hippolyte. Essai de reconstitution, LWQF 39, Münster 1963.
Alexandre Schmemann, Le grand Careme, Ascese et Liturgie dans l'Eglise Orthodoxe, Bellefontaine 1974, S. 118-145.
Es ist in der Orthodoxen Kirche nicht üblich, in fremden Gemeinden einfach zur Kommunion zu gehen, es sei denn, man sei dort als Gast aus einer befreundeten Gemeinde bekannt oder habe zumindest vorher mit dem Zelebranten Rücksprache genommen, s. auch unten S. 62.
Christoph Maczewski, Die Zoi-Bewegung Griechenlands. Ein Beitrag zum Traditionsproblem der Ostkirche, Göttingen 1970.